Wer die ihn umgebende Welt zutreffend erkennt, kann sich auf sie einstellen, während der, der über die Gegebenheiten schlecht informiert ist, wie blind durchs Leben stolpert. Auf das, was man falsch sieht, kann man nicht richtig reagieren! Darum ist die Wahrheit ein kostbares „Lebensmittel“. Und wer sie einem Mitmenschen verschweigt oder ihn bewusst täuscht, nimmt ihm die Möglichkeit, sich angemessen zu verhalten. Die Liebe zum Nächsten gebietet darum, die erkannte Wahrheit freigiebig mit ihm zu teilen.

Das achte Gebot

Du sollst nicht falsch Zeugnis reden… 

 

Wir kennen die Zehn Gebote. Und seit wir sie als Konfirmanden lernen mussten, ist uns auch das achte Gebot geläufig, das da lautet: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Doch kann zwischen bloßem Kennen und echter Aneignung ein weiter Weg liegen. Und so fällt mir auch bei den heutigen Konfirmanden auf, dass sie vom Sinn dieses Gebotes nicht spontan überzeugt sind. Natürlich lernen sie es brav und übersetzen es auch in die Sprache der Gegenwart: „falsch Zeugnis reden“ heißt lügen. Und wenn man erklärt, dass die Bibel damit zuerst das Lügen vor Gericht meint, wo falsche Anschuldigungen „wider den Nächsten“ schwere Folgen haben können, leuchtet ihnen das ein. Geht man aber tiefer und fragt, was „Wahrheit“ denn überhaupt sei, und warum sie Gott vor Verzerrung geschützt sehen will, sind die Konfirmanden eher ratlos. Denn wer kennt schon die „ganze Wahrheit“? Und wer braucht sie überhaupt? Hat heutzutage nicht jeder seine eigene Wahrheit? Und wenn sich einer etwas vormacht, warum muss man ihn dann hindern? Wer ist schon immer ehrlich? Und wenn einem etwas Dummes passiert ist, warum soll man sich dann mit der hässlichen Wahrheit selbst in Schwierigkeiten bringen, wenn man auch mit einer hübschen Ausrede durchkommt? Klar weiß jeder, dass er nicht lügen soll! Aber sind die Dummen, die jedes Märchen glauben, nicht selbst schuld? Man kann es Konfirmanden kaum verdenken, dass sie so reden. Denn sie sehen schon an ihren Eltern, dass man es mit der Wahrheit nicht immer genau nimmt, sondern sie nur dort einsetzt, wo sie nicht stört. Wenn man von der Tante ein Geburtstagsgeschenk bekommt, das total „daneben“ ist, soll man trotzdem so tun als freute man sich, damit die Tante nicht beleidigt ist. Und bevor Fehlstunden im Zeugnis stehen, weil das Kind sie geschwänzt hat, schreibt Mutter lieber eine „kreative“ Entschuldigung, erfindet große Übelkeit oder einen Arztbesuch. Die Enkel hören, dass man Opa besser nichts von jenem Unfall erzählt, denn er regt sich sonst nur unnötig auf und kriegt’s am Herzen – dem Opa muss man nicht die Wahrheit sagen, denn die belastet ihn bloß! Und der Vater erzählt auch ganz stolz, wie clever er seine altes Auto verkauft hat, weil der Käufer die verborgenen Mängel übersah, die der Vater „natürlich“ verschwieg, denn er „ist ja nicht blöd“! Wenn die Freundin mit einer neuen Frisur auftaucht, die jeder geschmacklos findet – warum soll man sie dann mit einer Wahrheit behelligen, die ihr den Tag verdirbt? Das ist doch nur höflich, sagen viele. Und überhaupt: wer allzu ehrlich ist, macht sich doch angreifbar! So bleiben sie denn nur bei der Wahrheit, wenn‘s ihnen gerade zum Vorteil gereicht. Wenn’s aber günstiger scheint, die Wahrheit ein wenig zu verdrehen, lassen sie das unter den sehr dehnbaren Begriff der „Notlüge“ fallen und kommen sich dabei clever vor. Wenn’s aber wirklich so wäre, das der gerade Weg uns Nachteile bringt, und der Ehrliche immer der Dumme ist – warum gibt Gott uns dann dieses strenge Gebot? Warum darf nicht jeder seine eigene Wahrheit haben – oder wenigstens eine geschönte Version davon? 

Nun, wie alle Gebote, so ist auch dieses nicht gegeben, weil Gott selbst etwas davon hätte, sondern weil es den Menschen gut tut. Und wer sich mal fragt, warum er ungern belogen wird, kommt auch bald drauf, warum Gott keine Lügen mag. Sie dienen der Manipulation, sie zerstören Vertrauen und erschweren die Orientierung in der Welt. Weil aber der letzte Punkt wenig bewusst ist, will ich ihn hier besonders herausstreichen. Wir alle brauchen die Wahrheit, um uns in der Welt zu orientieren, und brauchen sie so dringend wie die Luft zum Atmen! Denn schließlich besteht Wahrheit in Gedanken und Sätzen, die die Welt um uns herum richtig beschreiben. Wir reden von „Wahrheit“, wenn das, was einer behauptet, auch tatsächlich der Fall ist, wenn also die Dinge so liegen, wie es seine Worte beschreiben, und die Vorstellung, die im Geist entsteht, die Wirklichkeit korrekt abbildet. Auf die „korrekte Abbildung“ legen wir aber deshalb großen Wert, weil nur, wer die Gegebenheiten der ihn umgebenden Welt kennt, sich auf sie einstellen und erfolgversprechend handeln kann. Die erkannte Wahrheit bildet sozusagen die innere Landkarte, die wir uns von der Welt erstellen und die wir von Kindesbeinen an ständig korrigieren, ergänzen, prüfen und verfeinern! Denn unsere innere Landkarte von der Welt ist die Basis, auf deren Grundlage wir Pläne schmieden, Risiken abwägen, Schritte unternehmen und Ziele anstreben. Wenn unsere Landkarte aber voller Fehler ist, weil wir belogen wurden – wie können wir uns dann zurechtfinden und mit unseren Bemühungen erfolgreich sein? Wird nicht jemand, der über die Gegebenheiten um ihn herum schlecht informiert ist, zwangsläufig in die Irre gehen und wie blind durchs Leben stolpern? Und bringt ihn die Wahrheit, die ihm fehlt, nicht automatisch in Gefahr? Man muss da nur an einen Affen denken, der im Urwald von Baum zu Baum springt und so den Feinden entgeht, die am Boden auf ihn lauern. Auch dieser Affe kann mit seiner Strategie nur erfolgreich sein, wenn er, von Ast zu Ast springend, die Position der Äste korrekt wahrnimmt. Und denken wir uns einen schielenden Affen, der beim Springen den angepeilten Ast nicht da sieht, wo er sich tatsächlich befindet, so wird das arme Tier regelmäßig abstürzen. Mit der Lebenserwartung des schielenden Affen ist es nicht weit her. Denn lebenstüchtig ist nur die Kreatur, deren Wahrnehmung ein zutreffendes Bild der Gegebenheiten liefert. Irrtümer und Lügen sind hingegen gefährlich, weil man auf Realitäten, die man falsch sieht, auch nicht richtig reagiert. Wahrheit ist so gesehen wirklich ein „Lebensmittel“ – ein Mittel, das wir alle zum Leben und Überleben brauchen! Und wer die Wahrheit dennoch dem Mitmenschen verschweigt, nimmt ihm damit die Möglichkeit, sich angemessen zu verhalten. Denn wenn die Tante nicht erfährt, dass ihr Geschenk total „daneben“ war, kann sie es beim nächsten Mal nicht besser machen. Und wenn jene Freundin nicht mitbekommt, dass ihre Frisur lächerlich aussieht, wird sie dem Spott der Menge nicht entgehen. Verschweigt mir der Arzt, dass ich krank bin, kann ich mich nicht um Heilung bemühen. Und verschweigt mir der Arzt, dass ich sterben werde, nimmt er mir die Möglichkeit, mich darauf vorzubereiten. Wer die Regeln nicht kennt, kann das Spiel nicht gewinnen – das gilt im Straßenverkehr wie in der Wirtschaft und in tausend anderen Lebensbereichen. Darum ist es gemein und lieblos, einen schlecht informierten Mitmenschen in die Irre gehen zu lassen oder ihn gar bewusst zu täuschen. Vielmehr gebietet die Nächstenliebe, ihm das „Lebensmittel“ korrekter Orientierung nicht vorzuenthalten, sondern die erkannte Wahrheit freigiebig mit ihm zu teilen. Denn der Irrende tappt im Dunklen, wo es gefährlich ist, und wir haben es in der Hand, mit dem Licht der Wahrheit seinen Weg zu beleuchten, damit er sicher gehen kann. Was aber hindert uns, in diesem Sinne „Aufklärer“ zu sein und das große Flutlicht anzuschalten? Warum sind wir nicht uneingeschränkt Freunde des Lichtes und der Wahrhaftigkeit? Auch das ist kein Geheimnis, denn wir wissen ganz gut, was uns hemmt. Wir alle haben schon erfahren, dass man kein großes Licht anzünden kann, ohne hinterher selbst in diesem Licht zu stehen. Verschaffen wir dem Mitmenschen einen klaren Blick auf die ihn umgebende Welt, so ist das auch ein klarer Blick auf uns. Und die Einsichten, die der Andere dabei gewinnt, kann er evtl. gegen uns verwenden. Ehrlich und offen zu sein, macht uns angreifbar. Es verschafft dem Anderen einen Vorteil. Und darum zögern wir. Denn so sehr wir auch die Nachteile der Dunkelheit kennen, in der man orientierungslos herumstolpert und sich vor Anschlägen fürchtet, die man nicht kommen sieht, so kennen wir doch zugleich ihre Vorteile, weil man in der Dunkelheit manches verbergen kann, dessen man sich bei Tageslicht schämen müsste. Gnadenlose Beleuchtung stellt uns bloß! Im Dunklen kann man etwas verstecken! Und darum ist unser Verhältnis zur Wahrheit leider zwiespältig, weil wir um Gegner wissen, die „klare Sicht“ gern zum Angriff nutzen. Wir scheuen das Scheinwerferlicht der Wahrheit, denn wir kennen die Bosheit derer, die aus der Kenntnis fremder Schwächen gerne Waffen schmieden. Wissen ist Macht. Und wer viel weiß, kann diese Macht missbrauchen. Darum können wir tatsächlich nicht uneingeschränkt Freunde des Lichts sein, sondern müssen unserer Wahrhaftigkeit dort eine Grenze setzen, wo wir wissen, dass unser Gegenüber die mitgeteilte Wahrheit als Mittel zu bösen Zwecken missbrauchen möchte. 

Stellen wir uns z.B. einen Lehrer vor, der regelmäßig über Alkoholiker spottet, und einen Schüler, dessen Vater dieses Problem hat. Wenn der Lehrer nun jenen Schüler vor der ganzen Klasse fragt, ob sein Vater gestern mal wieder betrunken nach Hause gekommen ist, dann meine ich nicht, dass der Schüler das wahrheitsgemäß bejahen muss, sondern dass er zumindest das Recht hat, die Antwort zu verweigern. Denn er schuldet niemandem die Wahrheit, der sie nur zum bösen Zwecke der Demütigung und Verhöhnung einsetzen will. Und wenn die Gestapo in einem Wohnblock nach versteckten Juden sucht, ist ein Befragter auch sicher nicht verpflichtet, das ihm bekannte Versteck preiszugeben und die Verfolgten damit ans Messer zu liefern, sondern natürlich ist es in derartigen Fällen legitim, wenn man sich in Schweigen hüllt und sein Wissen für sich behält, damit es nicht als Mittel und Werkzeug des Bösen diene! Ja, wenn es der Schutz unseres Nächsten erfordert, müssen wir nicht zur Unzeit ausplaudern, was wir wissen, sondern dürfen verstummen, um nicht die Perlen der Wahrheit vor die Säue zu werfen, die sie doch nur zertreten (Mt 7,8). Und selbstverständlich sollen wir uns auch selbst davor hüten, die Wahrheit dergestalt als Waffe zu missbrauchen, dass wir Menschen damit bloßstellen, ihre Schwächen ans Licht zerren, sie durch Ausleuchten ihrer Geheimnisse der Lächerlichkeit preisgeben und durch Gehässigkeit, Lästerei und verletzenden Spott ihren Ansehen schädigen. All die Zungensünden derer, die ihren Mund nicht halten können, müssen uns fern liegen! Denn wenn wir schon unsere Glieder nicht zu Waffen der Ungerechtigkeit hergeben dürfen, dann auch nicht unsere Kenntnisse (Röm 6,13)! 

Diese Kunst, aus Liebe zum Nächsten an der rechten Stelle zu schweigen, ist aber keinesfalls zu verwechseln mit dem eingangs geschilderten „pragmatischen“ Verfahren, das der Wahrheit nur dann die Ehre gibt, wenn’s grad passt und dem eigenen Vorteil dient. Denn kurz gesagt: Ein Christ sollte stolz darauf sein, dass er zwar durchaus Schweigen kann, wenn’s nötig ist, um den Nächsten zu schützen oder dessen Schande zu bedecken, dass er aber für die eigene Person jedes Versteckspiel verschmäht. Denn grundsätzlich ist die Wahrheit des Glaubens Freund und arbeitet immer für uns. Der Gott, an den Christen glauben, ist der Grund aller Wirklichkeit. Daher kann sich ein Mensch, indem er der Wahrheit über diese Wirklichkeit näher kommt, unmöglich von Gott entfernen, sondern näher an der Wahrheit ist er auch näher an Gott. Gott ist schließlich selbst die Wahrheit. Und wer bei Gott bleiben will, bleibt folglich auch bei der Wahrheit und bedarf nicht der Lüge, sondern verachtet sie je länger, je mehr. Mögen sich doch die Finsterlinge im Schatten aufhalten, weil ihre Schande das Licht scheuen muss! Einem Christen sollte es fremd sein! Denn – gehört es zum Christ-Sein, dass wir uns als Sünder bekennen, was gibt es dann noch zu verheimlichen? Und gehört es zum Christ-Sein, dass Gott uns begnadigt, was schert uns noch das Urteil der Schwätzer? Heißt Christ-Sein nicht, aufgedeckt zu sein und durchschaut zu sein von einem Gott, der sieht und trotzdem vergibt? Heißt Christ-Sein nicht, sich dem zu überlassen, der alle Verstellung und alles Unwahre aus unserem Leben tilgen will? Und ist es darum nicht unser schönstes Vorrecht, der Verstrickung in Lüge entronnen bei der schlichten Wahrheit bleiben zu dürfen – einfach, weil wir die Lüge als das Lieblingsspiel Satans verschmähen und ihrer zur Tarnung nicht mehr bedürfen? Wenn ich akzeptiert habe, was ich in Gottes Augen bin – wem muss ich dann noch etwas vormachen? Habe ich vor meinem Gott die Karten aufgedeckt, der mich trotzdem nicht verwirft, welcher Spott kann mich da noch treffen? Bin ich mit Gott im Reinen, was müsste ich da vor Menschen verbergen? Hat er mich aber angenommen, warum soll ich mich dann noch verstellen? Wer kann den entlarven, der durch Ehrlichkeit entwaffnet? Die tiefste Wahrheit über einen Christen ist bereits enthüllt, darum muss er keine Enthüllung mehr fürchten. Und von Christus getröstet muss er sich auch nicht mehr schämen, sondern bei jener Wahrheit, die ihn so gründlich erfasst hat, kann er bleiben wie in einem freien Land, das er als seine Heimat liebt.

Worum geht es also im achten Gebot? Es geht beileibe nicht darum, dass Gott uns (während wir die Lüge lieben) die Last eines Verbotes auflegt, um uns zu gängeln! Sondern als freie Menschen, die er in Christus zur Wahrheit berufen hat, ermuntert er uns, dieser großen und schönen Berufung gemäß zu leben. Und so haben wir’s viel eher mit einer Erlaubnis als mit einem Verbot zu tun. Gott erlaubt uns, den Schmutz der Lüge und der Heuchelei hinter uns zu lassen als etwas Peinliches, das wir früher mal nötig hatten, weil wir nicht aufrecht waren, das wir nun aber gewiss nicht mehr brauchen, weil Christus uns gewaschen und begnadigt hat. Er hat uns sogar berufen, Zeugen seiner Wahrheit zu sein! Er hat unseren Mund von allem Unflat gereinigt, um seinen heiliges Wort und sein Evangelium hineinzulegen als Rat, Mahnung und Trost für die ganze Welt! Das ist es, was er in unseren Geist schreibt und auf unsere Zunge legt! Und das verträgt sich nicht mit Falschheit, übler Nachrede und bösem Geschwätz. Wir haben dergleichen nicht mehr nötig. Und darum ist das achte Gebot keine einengende Vorschrift, sondern eher eine Erinnerung an den uns verliehenen Adel. Zu Boten Gottes sind wir berufen, und was damit unverträglich ist, soll uns nicht mehr über die Lippen kommen, sondern Lob soll auf diesen Lippen sein, für den einen, der ohnehin alles weiß und alles sieht, weil er die Wahrheit selber ist.