Unser Scheitern an Gottes Geboten verdirbt uns die Lust daran. Denn Gottes Gesetz scheint für nichts anderes zu taugen, als dass es unser Versagen aufdeckt. Es ist der Eisberg, an dem die „Titanic“ menschlicher Selbstsicherheit zerschellt. Doch ist das in Wahrheit gut so! Denn was da zerbricht, war eine Illusion. Erreicht der Schiffbrüchige aber das Rettungsboot, das man Kirche nennt, und schlüpft bei Christus unter, so kommt er unter Jesu Führung an das Ziel, zu dem ihn seine „Titanic“ (sein stolzes Bemühen um Vervollkommnung) niemals hätte bringen können. 

Desillusionierung, Selbsterkenntnis und Buße

Was nützt mir Gottes Gesetz?


Der erste Psalm enthält einen irritierenden Vers – einen, über den man stolpern kann. Da heißt es nämlich: „Wohl dem, der ... Lust hat am Gesetz des Herrn.“ Der Satz ist leicht gesagt. Schwierig wird es aber, wenn man sich fragt, ob man selbst so einer ist. Bin ich einer, der Lust hat am Gesetz des Herrn? Bereiten mir die 10 Gebote Freude? Es würde mich wundern, wenn darauf jemand spontan „Ja“ sagte. Wir neigen wohl eher dazu, diese Frage befremdlich zu finden. Denn reicht es nicht, dass man sich an Gottes Gebote halten soll – ist das nicht schwierig genug? Müssen wir auch noch jubeln über die Vorschriften, die Gott uns macht? Setzen wir nicht zu hoch an. Der erste Schritt zur Lust am Gesetz des Herrn, ist wohl die Einsicht in die Berechtigung und in die Notwendigkeit dieses Gesetzes. Und solche Einsicht ist auch schon viel wert. Es ist viel wert, wenn Menschen einsehen, dass sie sich auf Gottes Grund und Boden befinden. Wir sind in dieser Welt Gäste, und er ist der Hausherr. Darum ist es sein gutes Recht, eine Hausordnung zu verkünden. Er hat das Recht, seinen Gästen Verhaltensregeln aufzuerlegen. Und dass er von diesem Recht Gebrauch macht, ist nur zu verständlich. Denn da Gott seine Erde liebt, will er sie vor Zerstörung schützen. Er will nicht, dass seine Gäste übereinander herfallen. Und er will nicht, dass sie die Einrichtung seines Hauses ruinieren. Weil wir aber nicht aus eigenem Instinkt heraus das Gute tun, hat er uns seine Hausordnung schriftlich gegeben: Die 10 Gebote. Es sind weise Gebote, die dem Leben dienen. Das geben sogar Nichtchristen zu! Es sind gute Regeln, die uns davor bewahren, uns selbst und anderen zu schaden. Trotzdem aber ist die „Unlust“ am Gesetz des Herrn meist größer als die „Lust“. Und warum? Liegt es daran, dass wir eigentlich lieber gesetzlos wären? Liegt es daran, dass uns das Böse oft so verlockend und schön erscheint? Zumindest bei den reiferen Charakteren vermute ich, dass etwas anderes im Vordergrund steht. Bei ihnen rührt der Widerwille gegen Gottes Gesetz eher daher, dass sie an der Erfüllung der Maßstäbe, deren Berechtigung sie einsehen (!), so oft scheitern. Ja, unser Scheitern am Gesetz des Herrn verdirbt uns die Lust daran. Denn es ist ja nicht so, dass man es nicht versuchte. Gerade dann aber, wenn man ernstlich Gottes Willen zu tun versucht, merkt man, wie unendlich schwer das ist. Es ist ja bei weitem nicht damit getan, dass man nur das Stehlen, das Morden und Ehebrechen unterlässt. Dergleichen zu lassen – das würden wir uns vielleicht noch zutrauen. Aber in Wahrheit sind die Zehn Gebote nicht bloß Verbote, sondern zugleich Gebote positiver Aktivität: „Du sollst nicht töten“ heißt auch: Du sollst das Leben des anderen fördern. „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden“ heißt auch: Du sollst die Wahrheit ausbreiten. „Du sollst nicht ehebrechen“ heißt auch: Du sollst deinen Ehepartner lieben und ehren. Nimmt man diese positiven Forderungen in den Verboten wahr, so wird es schon viel schwerer, dem Gesetz zu folgen. Und selbst wenn es jemandem gelänge, wäre das noch nicht genug. Denn Jesus hat die Latte in der Bergpredigt noch höher gelegt. Da fordert er nicht bloß reine Hände, die das Gute tun, sondern fordert dazu auch noch reine Herzen, die nichts als nur Gutes wollen und wünschen. Er sagt: Wenn du in deinem Herzen und in Gedanken Ehebruch begangen hast, so ist es als hättest du ihn wirklich begangen. Und wenn du im Herzen deinem Feind den Tod wünschst, so ist es, als hättest du ihn schon umgebracht. Folgerichtig verlangt Jesus von uns, dass wir nicht nur auf böses Tun verzichten, sondern dass auch die Lust auf dieses böse Tun aus unserem Herzen verschwindet. Jesus fordert, nicht bloß äußerlich das Gute zu tun, sondern auch innerlich immer uneingeschränkt das Gute zu wollen. Wer aber könnte vor diesem Maßstab bestehen und diesem Anspruch gerecht werden – außer Jesus selbst? Wer das zu Ende denkt, wird finden, dass es auf jene erschreckende Forderung des 1. Petrusbriefes hinausläuft: „...wie der, der euch berufen hat, heilig ist, sollt auch ihr heilig sein in eurem ganzen Wandel. Denn es steht geschrieben: »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.«„ (1.Petr 1,15–16) Und an diesem Punkt ist es dann wohl vorbei mit der Einsicht. Denn wer sollte sich da nicht überfordert fühlen und die Lust verlieren am Gesetz des Herrn? Läuft es darauf hinaus, dass wir heilig sein sollen wie Gott heilig ist, so können wir nur scheitern. Und damit wird unser Psalmwort vollends unverständlich. Denn wie soll man Lust haben am Gesetz des Herrn, wenn es keine Hilfe ist auf dem Weg zu Gott, sondern eher ein großer Stolperstein? Das Gesetz scheint für nichts anderes zu taugen, als dass es unser Versagen aufdeckt. Es zwingt uns, zu gestehen, dass wir uns mit aller Willensanstrengung nicht zu guten Menschen machen können. Es blamiert uns, weil es zeigt, wie wenig wir uns im Griff haben. Und das ist doch kein Gewinn! Oder vielleicht doch? Ja, ich meine tatsächlich, dass es gut ist, wenn das Gesetz uns ins Stolpern bringt. Es bringt unser moralisches Selbstbewusstsein zu Fall und lässt die Illusion „freier“ Selbstbestimmung platzen. Wir entdecken, wie viel Macht das Böse über uns hat. Und erschrocken erkennen wir uns wieder in den Worten des Paulus: „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ (Röm 7,18–19). Das zu erkennen, ist schmerzhaft, aber heilsam. Denn in jedem von uns steckt die Neigung, das Gelingen unseres Lebens zu erzwingen. Wir würden uns erfülltes Leben lieber erkämpfen oder verdienen, statt es aus der Hand Gottes „gratis“ zu empfangen. Und selbst den Himmel würden wir am liebsten erobern durch eine „Lebensleistung“, die Gott anerkennen und honorieren muss. Wir verlassen uns eben lieber auf unsere eigenen Verdienste als auf Gottes Gnade. Doch je früher und je gründlicher diese Illusion scheitert, umso besser ist es. Denn je eher man aus dieser falschen Bahn geworfen wird, umso eher wird man die richtige finden. Eben dafür aber sorgt das Gesetz selbst. Es tritt uns nämlich mit erbarmungsloser Strenge entgegen und lehrt uns dadurch, das Erbarmen Jesu Christi zu suchen. Es ist ein „Erzieher“ ein „Zuchtmeister“ auf Christus hin, sagt Paulus (Gal 3,24). Es ist der Eisberg, an dem die „Titanic“ menschlicher Selbstsicherheit zerschellt. Das klingt vielleicht „destruktiv“. Aber was zerbricht, ist nur die Illusion, die den Menschen daran gehindert hat, seinen Erlöser kennenzulernen. Erreicht der Schiffbrüchige jenes Rettungsboot, das man „Kirche“ nennt, schlüpft er also bei Christus unter, so erreicht er unter Jesu Führung das Ziel, zu dem ihn seine „Titanic“ (sein stolzes Bemühen um Vervollkommnung) niemals hätte bringen können. Er wird die Nase nun tiefer tragen. Aber das macht nichts. Denn er verdankt dem „Eisberg“ eine neue, realistische Selbsteinschätzung. Und er beginnt zugleich, das Gesetz anders wahrzunehmen. Als Christ weiß er, dass das Gesetz ihn nicht erlösen kann, denn er ist ein Sünder. Und er weiß zugleich, dass es ihn nicht verdammen kann, denn er ist gerechtfertigt durch Christus. Eines aber kann das Gesetz. Für den, der durch Christus gerechtfertigt ist, kann es sich zurückverwandeln in das, was es vom Anbeginn der Schöpfung eigentlich sein sollte: Nicht Überforderung, nicht strenger Zuchtmeister und nicht Ankläger, sondern Gottes gute Hausordnung für das Haus seiner Schöpfung. Wer das erkennt, der empfindet Gottes Gebote am Ende nicht mehr als „Einschränkung“, sondern als Orientierungshilfe. Die Gebote leisten ihm dann gute Dienste als Warnschilder an Gefahrenstellen des Daseins und als Geländer, an dem man sich halten kann auf abschüssigen Wegen. Der Einsichtige übt sich darin, nur noch zu wollen, was Gott will, und gewinnt am Ende das, was unser Psalm so lobt: Er gewinnt tatsächlich „Lust am Gesetz des Herrn“...