VERSUCHUNG

 

„Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns vom Bösen. Diese Bitte passt zu der Verheißung, dass Gott sein Gesetz in unsere Herzen schreiben wolle. Weil wir aber in unserm Gehorsam gegen Gott einen beständigen und harten Kampf aushalten müssen, so bitten wir hier, dass er uns mit Waffen ausrüsten und mit seiner Kraft beschirmen wolle, damit wir den Sieg davon tragen mögen. Hiedurch werden wir erinnert, dass uns nicht allein die Gnade des Geistes nötig sei, die unsere Herzen innerlich erweiche und zum Gehorsam gegen Gott lenke, sondern auch sein Beistand, damit er uns standhaft mache wider alle List und Anfechtungen des Satans. Nun sind aber der Versuchungen viele und mancherlei. Denn eines Teils gehören dazu die bösen Gedanken, die uns zur Übertretung des Gesetzes reizen, welche entweder unsere verderbte Lust uns eingibt, oder der Teufel erregt; andern Teils werden auch Versuchungen für uns die Dinge, welche zwar an sich selbst nicht böse sind, aber durch des Teufels Kunst gemissbraucht werden, wenn sie nämlich unsern Augen sich so eindrücken, dass wir durch den Anblick derselben von Gott abgeführt werden (…). Auf der einen Seite sind es: Reichtum, Gewalt, Ehre, welche gemeiniglich mit ihrem Glanz den Leuten die Augen verblenden, oder sie ins Wohlleben stürzen, so dass sie ihres Gottes vergessen; anderseits sind es: Armut, Schmach, Verachtung, Trübsal, durch deren Last darniedergedrückt sie den Glauben und die Hoffnung sinken lassen, und endlich von Gott ganz und gar abtrünnig werden. Wir bitten nun Gott unsern Vater, dass er uns in dieser doppelten Art von Versuchungen nicht unterliegen lasse, sondern vielmehr mit seiner Hand aufrichte: damit wir durch seine Kraft gestärkt wider alle Angriffe des bösen Feindes Stand halten können, und weder im Glück aufgeblasen werden, noch im Unglück verzagen. Jedoch begehren wir hier nicht, ohne alle Anfechtungen zu bleiben; denn wir haben ihrer hoch vonnöten, damit wir dadurch, desto wachsamer gemacht, und vor der fleischlichen Sicherheit bewahrt werden. Der Herr versucht auch seine Auserwählten täglich, indem er sie durch Schmach, Kreuz und Trübsal züchtigt (…). Aber auf eine andere Weise versucht Gott und auf eine andere Weise der Teufel; dieser, dass er verderbe und ins Elend stürze, Gott aber, dass er durch Prüfungen die seinen erforsche, ihre Aufrichtigkeit erprobe und durch Übung stärke, ihr Fleisch töte und kreuzige, damit es nicht mutwillig und geil werde. Zudem überfällt der Satan die Wehrlosen und Ungerüsteten, damit er sie unvermutet unterdrücke: Gott aber gibt mit der Versuchung auch die Ausdauer, dass die Seinen geduldig ertragen können, was er ihnen zuschickt (…). So ist denn hier das unser Begehren, dass wir von keinerlei Versuchungen überwunden werden, sondern durch des Herrn Kraft wider alle Kraft des Feindes feststehen: welches heißt, in den Versuchungen nicht unterliegen.“ (Johannes Calvin)