Die Abhängigkeit von anderen birgt das Risiko, enttäuscht zu werden. Darum strebt der Mensch nach Unabhängigkeit: Er versucht, die Rahmenbedingungen seines Lebens der eigenen Kontrolle zu unterwerfen. Doch gelingt es nie, alle Fremdbestimmung abzuschütteln. Und es muss auch nicht gelingen. Denn nur Gott ist wirklich „autonom“. Und der Glaube kann uns lehren, die Abhängigkeit von ihm nicht als Unglück, sondern als Glück zu betrachten: Wirklich „frei“ ist nämlich nur der, der nicht in sich selbst, sondern in Gott ruht.

Selbstbestimmung und Abhängigkeit

Ist nur Gott autonom – und sonst keiner?


Verlassen sie sich gern auf andere? Sind sie gern abhängig von der Zuverlässigkeit anderer Menschen? Die Frage so zu stellen, heißt eigentlich schon, sie zu verneinen. Denn niemand ist gerne „abhängig“. Auf andere angewiesen zu sein, birgt schließlich Risiken. Und Risiken vermeiden wir gern. Zwar wächst das Vertrauen, wenn wir mit einem Menschen wiederholt gute Erfahrungen machen. Doch ist man vor Enttäuschungen nie sicher. Man weiß ja nicht wirklich, was im Anderen vorgeht. Man kann sich in Menschen täuschen. Und darum bauen wir im Zweifelsfall lieber auf uns selbst: Wenn man sicher sein will, dass etwas klappt, muss man es eben selber machen. Denn sich selbst hat man unter Kontrolle – die anderen nicht. Ist es unter diesen Umständen verwunderlich, dass „Unabhängigkeit“ und „Autonomie“ für viele Menschen zum Lebensideal geworden sind? Wer schon einmal im Stich gelassen wurde, kann das nachvollziehen. Man verlässt sich dann am liebsten nur noch auf sich selbst. Man baut möglichst nur auf Fundamente, die man selbst gelegt hat. Man glaubt nur, was man selbst geprüft hat. Und man meidet auch die emotionale Abhängigkeit von anderen. Allerdings – das ersehnte Gefühl von Sicherheit stellt sich dabei selten ein. Denn der Traum, die Rahmenbedingungen des Lebens der eigenen Kontrolle zu unterwerfen, lässt sich nicht verwirklichen. Gern wäre der Mensch selbst der Garant seines Glückes, gern hätte er die Fäden seines Schicksals in der Hand. Doch wirkliche „Autonomie“ erreicht er nie. Denn es gibt zu viele Abhängigkeiten, aus denen er sich nicht lösen kann. Es sind zu viele Faktoren, die dem Wunsch nach Selbstbestimmung entgegenstehen. Und nicht alle diese Faktoren kann man „in den Griff“ bekommen. Im Gegenteil: Manche versuchen mich unter Kontrolle zu bringen! Manches im Leben scheint verlässlich zu sein. Anderes ist unberechenbar. Und das macht uns „Stress“. Denn der Rahmen, in dem wir versuchen unser Dasein zu sichern, ist offenkundig instabil. Darüber kann man sich ärgern. Die Abhängigkeit und die Zerbrechlichkeit unseres Lebens erfüllen uns mit Sorge. Aber es fehlt uns die Kraft, der Welt unseren Willen aufzuzwingen. So streben wir zwar unablässig nach Selbstbestimmung. Wir erleben aber immer wieder Fremdbestimmung. Und wir werden dadurch zurückgeworfen in die beständige Sorge um die Stabilität unseres Daseins. Wir würden unser Leben gern auf eigene Ressourcen gründen. Wir spüren aber, dass uns das überfordert. Und so bleibt der Mensch mit seinem unerfüllten Wunsch nach Autonomie und Kontrolle eine tragische Figur, die Ruhe sucht und doch niemals Ruhe findet. Wirklich niemals? Gibt es keine Alternative? Doch: Der christliche Glaube behauptet, so eine Alternative zu sein. Denn der Glaube erkennt, dass die Autonomie, von der so viele Menschen träumen, eine Illusion ist. Nur Gott ist wirklich „autonom“. Nur Gott gründet in sich selbst und lebt von sich selbst. Der Mensch dagegen ist wesensmäßig abhängig. Und er kommt erst zur Ruhe, wenn er diese Abhängigkeit (als Abhängigkeit von Gott!) annimmt und bejaht. Denn Abhängigkeit gehört zum Geschöpf-Sein notwendig dazu. Wer gegen sie ankämpft, ändert dadurch nichts – er wird nur unglücklich darüber. Wer sie aber fröhlich bejaht, findet Frieden. Denn er kann aufhören, sich ständig selbst zu überfordern. Wer Gott kennt, muss nicht krampfhaft danach streben, sein eigener Schöpfer, sein eigener Herr und Erlöser zu sein. Vielmehr darf er das alles Gott überlassen, weil er weiß, dass die Sorge um sein Dasein in Gottes Händen gut aufgehoben ist. Er akzeptiert, dass er nicht von sich selbst, sondern von Gottes Gnade lebt. Und er wird dadurch wunderbar entlastet, weil er Gott überlässt, was er selbst niemals leisten könnte. Von solch einer Glaubenshaltung sagt Martin Luther: „Sie reißt uns von uns selbst weg und stellt uns außerhalb unser, so dass wir uns nicht auf unsere Kräfte, Gewissen, Sinn, Person, auf unsere Werke stützen, sondern auf das, was außerhalb unser ist, nämlich auf die Verheißung und Wahrheit Gottes, der nicht täuschen kann.“ Was Luther hier rühmt, ist für das Selbstverständnis des modernen Menschen eine Zumutung. Denn der möchte gerade nicht „von sich selbst weggerissen“ werden. Im Gegenteil: Der moderne Mensch möchte in sich ruhen. Er sucht die Wahrheit und den Frieden nirgendwo anders als in sich selbst. Glaube besteht aber gerade darin, dass ich den Ruhepunkt meines Lebens jenseits von mir in Gott finde. Der Glaube beharrt nicht auf der Zentralstellung der eigenen Person. Sondern wie ein Wanderer die Heimat „verlässt“, so „verlässt“ sich der Gläubige (in Richtung) auf Gott. Er nimmt Abschied vom „Ego“ und kreist nicht weiter um sich selbst, sondern verlegt den Mittelpunkt seines Daseins in Gott – um Gottes Willen künftig wichtiger zu nehmen als den eigenen. Das ist so ziemlich das Gegenteil von „Selbstbestimmung“. Denn der Gläubige findet den Grund und den Maßstab seines Lebens jenseits seines „Selbst“ – in einem anderen. Das riecht nach „Abhängigkeit“. Und doch ist es in Wahrheit eine fröhliche und befreiende Angelegenheit. Denn im „Anderen“, in Gott, findet der Gläubige, was er in sich selbst vergeblich suchen würde. Er muss zwar Gott Gott sein lassen. Aber er gewinnt dadurch die Freiheit als Mensch wirklich Mensch zu werden. Freilich: Ist das so einfach, wie es klingt? Wie kann das überhaupt geschehen, dass ein Mensch „von sich selbst weggerissen“ wird? Wie kommt er dahin, „in Gott gegründet“ zu sein? Ist dieser Glaube nicht selbst so ein Vorhaben, mit dem der Mensch sich überfordert? Nein. Denn „glauben“ bedeutet ja gar nicht, neue Fakten zu schaffen. Es heißt lediglich anzuerkennen, was längst Faktum ist: Dass ich nämlich „für-mich-genommen“ gar nichts bin, sondern in Wahrheit nur das bin, was ich „für Gott“ bin. Anders gesagt: Es ist Gottes Beziehung zu mir, die mich zu etwas macht. Denn mein Dasein hat exakt den Wert, den er ihm beimisst. Mein Leben hat den Sinn, den er ihm verleiht. Und es hat die Bedeutung, die er ihm gibt. Wer ich bin, das mache ich also nicht mit mir selber aus. Vielmehr verdanke ich mich der Beziehung zu dem, der mich gewollt hat, und bin nicht mehr oder weniger als was ich „für ihn“ bin. Oder könnte jemand sagen, er sei ein „Geliebter“, wenn er es nicht „für“ den Liebenden wäre? Könnte jemand sagen, er sei ein „Schüler“, wenn es keinen Lehrer gäbe, der ihn zum „Schüler“ macht? Ist etwas „wichtig“, wenn da keiner ist, der es „wichtig“ nimmt? So wäre der Mensch „an-und-für-sich“ gar nichts. Er ist nur, was er in der Beziehung zu Gott, was er „für“ Gott sein darf. Und eben diese Erkenntnis ist es, die uns „von uns selbst wegreißt“. Sie befreit uns von dem Wahn, uns selbst „erfinden“ und unserem Dasein Bedeutung verleihen zu müssen. Und sie öffnet uns die Augen dafür, dass Quelle, Grund und Ziel unserer Existenz jenseits von uns in Gott liegen. Denn er allein lebt aus sich selbst heraus – und wir leben von ihm. Das scheint auf den ersten Blick sehr ärgerlich zu sein. Und doch sieht der Glaube in der „Unselbständigkeit“ des Menschen gerade kein Unglück. Sondern er freut sich dessen. Denn was nicht in unserer Hand liegt, kann auch nicht durch unsere Hand verdorben werden. Was nicht von unserer Kraft und Geschicklichkeit abhängt, kann auch nicht an unserer Ungeschicklichkeit scheitern. Und das ist eine große Entlastung! Mag ich in den Augen der Welt auch ein Versager sein, so bin ich doch in Gottes Augen sein geliebtes Kind. Bin ich auch für mich selbst ein Problem, so bin ich doch für ihn eine Freude. Bin ich auch schuldig, so spricht er mich doch frei. Wäre ich nur das, was ich selbst aus mir mache, so dürfte ich wenig hoffen. Da ich aber bin, was Gott mich sein lässt, habe ich Zukunft. Er reißt mich von mir selbst weg und gründet mich außerhalb meiner selbst auf festen Grund. Sein Urteil über mich wiegt schwerer, als mein eigenes. Sobald ich mir darüber aber klar werde, stehe ich schon mitten drin im Glauben und darf jubeln: Gott sei Dank – ich bin nicht „autonom“!