Das biblische Wort ist nicht Gottes Wort allein, denn niedergeschrieben haben es Menschen. Das biblische Wort ist aber auch nicht allein Menschenwort, denn Menschen finden sich darin seit Jahrhunderten von Gott angeredet. Die Bibel ist demnach Gotteswort und Menschenwort zugleich – und ähnelt darin dem, von dem sie berichtet. Denn Jesus Christus war auch Mensch und Gott zugleich, ohne dass seine menschliche Natur die göttliche aufgehoben hätte (oder umgekehrt).   

Historisch-kritische Exegese

Ist die Bibel Menschenwort oder Gotteswort?


Das biblische Wort ist nicht Gottes Wort allein, denn niedergeschrieben haben es Menschen, deren persönliche Eigenart und Arbeitsweise der Text erkennen lässt. Das biblische Wort ist aber auch nicht allein Menschenwort, denn Menschen finden sich darin seit Jahrhunderten von Gott angeredet und zum Glauben überwunden. Die Bibel ist demnach Gotteswort und Menschenwort zugleich – und sie ähnelt darin dem, von dem sie berichtet. Denn Jesus Christus war auch Mensch und Gott zugleich, ohne dass seine menschliche Natur die göttliche aufgehoben hätte (oder umgekehrt). Die historisch–kritische Exegese verengt nun ihren Blickwinkel auf die menschliche Seite der Schrift, indem sie es zum methodischen Grundsatz erhebt, die Texte nicht anders zu betrachten und zu untersuchen als es Literaturwissenschaftler mit jedem antiken Text tun: Als Menschenwerk. Historisch–kritische Exegese rekonstruiert die Entstehungsgeschichte des Textes, indem sie das Wollen und Wirken der menschlichen Tradenten, Autoren und Redakteure zum Thema macht. Sie untersucht die wechselnden Denkvoraussetzungen und Aussageabsichten dieser Menschen, aus deren Zusammenspiel der heute vorliegende Text resultiert. Und falsch wäre daran gar nichts, wenn dieser Zugang zur Bibel nicht allzu oft als der einzig angemessene, und dieser eine Aspekt als das Ganze ausgegeben würde. Zweifellos fördert die historisch–kritische Exegese viel Wissenswertes zu Tage. Doch handelt es sich eben nur um die „halbe Wahrheit“ (= die Bibel als Menschenwort), während die andere Hälfte der Wahrheit (= die Bibel als Gotteswort) ausgeblendet bleibt: Man fragt, was die Evangelisten durch ihre Evangelien den eigenen Zeitgenossen sagen wollten. Man fragt in der historisch–kritischen Exegese aber nicht, was Gott durch die Evangelien zu uns sagen will. Man verbreitet sich in den Kommentaren über die vermuteten Intentionen vermuteter „Bearbeiter“. Doch wer sich in diesen Kommentaren über die Aussageabsicht Gottes informieren wollte, würde vergeblich suchen. Denn historisch–kritische Exegese wird betrieben „etsi deus non daretur“ („als ob es keinen Gott gäbe“). Und viele Vertreter der Disziplin halten gerade das für ein Kennzeichen ihrer „Wissenschaftlichkeit“. Leider vergessen sie dabei, dass der Grund, weshalb wir uns heute noch für die Bibel interessieren, nicht in dem liegt, was die Bibel mit der übrigen Literatur vergangener Epochen gemein hat, sondern in dem, was sie unterscheidet. Das menschliche Wort der biblischen Autoren wäre längst vergessen, wenn nicht in, mit und unter ihren Worten Gottes Wort hörbar würde. Nicht um ihretwillen, sondern um seinetwillen interessieren uns die Texte. Und darum ist die „menschliche“ Hälfte der Wahrheit die bei weitem weniger wichtige. An Jesus Christus interessiert uns ja auch nicht primär die menschliche Anatomie, die er mit uns gemeinsam hat, sondern seine Gottessohnschaft, die ihn von uns unterscheidet. Insofern muss man sagen, dass die historisch–kritische Exegese genau das ausblendet, um dessentwillen die Bibel gelesen wird. Sie geht an den biblischen Text heran wie ein Lebensmittelchemiker an Brot und Wein des Abendmahles. Natürlich findet er im Brot das Mehl und im Wein den Alkohol und das Wasser. Niemand wird seiner Analyse widersprechen. Doch wegen Mehl und Wasser geht niemand zum Abendmahl, sondern wegen Christi Leib und Blut. Wenn der Lebensmittelchemiker nun bekundet, dass er Christi Leib und Blut nicht finden kann, wird das die Teilnehmer des Abendmahles dann sehr beeindrucken? Wenn eine Untersuchungsmethode das Wesentliche des untersuchten Gegenstandes nicht erfasst, ist das dann ein Fehler des Gegen-standes? Erweist er sich als beschränkt? Oder ist die Reichweite der Methode beschränkt? Natürlich gilt Letzteres. Darum kann die historisch–kritische Arbeit als legitimer Teilaspekt der Exegese gelten – gewissermaßen als eine Vorarbeit, der die Hauptsache noch folgen muss. Wird der Teilaspekt aber als das Ganze präsentiert, und dieser Zugang als der alleinige, so verwandelt sich die halbe Wahrheit in einen ganzen Irrtum.