Die Liebe zu Gott besteht darin, in hingegebener Weise auf ihn konzentriert und ausgerichtet zu sein. Wer Gott liebt, dreht sich nicht hierhin und dahin, um tausend Dinge wichtig zu nehmen, sondern hängt an Gott und schaut auf Gott. Er reißt die Fenster weit auf, damit Gottes Wort hereinschallt, und streckt Gott sein Gesicht entgegen, damit Gottes Sonne es wärmt. Er ist, was er ist, nur in der Beziehung zu Gott, denn ihm ehrfurchtsvoll und freudig gegenüberzustehen, mit größtem Respekt, aber ohne Angst, das macht das Wesen und die Bestimmung des Gläubigen aus. 

Liebe zu Gott

Wie soll das gehen?


Stellen Sie sich vor, sie wären Teilnehmer in einer Fernseh-Quiz-Show. Sie haben schon etliche Fragen richtig beantwortet – aus den Bereichen Kunst und Biologie, Geschichte und Technik. Und nun kommt die 60.000-Euro-Frage aus der Kategorie Bibelwissen. Sie lautet: „Welches der vielen biblischen Gebote hat Jesus als das „höchste“ und „größte“ bezeichnet? Welches ist also nach Jesu Aussage das wichtigste Gebot?“ Nun – wüssten sie‘s? Oder würden sie die Frage lieber gegen eine andere tauschen? Müssten sie das Publikum befragen oder einen Experten anrufen? Nun, ich fürchte, viele Menschen würden an dieser Frage scheitern. Dabei ist der biblische Bericht, der die Antwort enthält, ziemlich bekannt. Da kommt ein Schriftgelehrter zu Jesus, um ihn auf die Probe zu stellen. Und er fragt „Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz?“ Jesus aber antwortete ihm: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt«. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ (Mt 22,34-40) Die Liebe zu Gott ist also das wichtigste und höchste Gebot, und nur die Liebe zum Nächsten ist von vergleichbarer Bedeutung. Wenn’s aber so ist, warum wird dann über „Nächsten-liebe“ so oft gesprochen – und über „Gottesliebe“ so selten? Liegt es vielleicht daran, dass die Nächstenliebe anschaulicher und konkreter ist? Ja: Bei allen Schwierig-keiten, die wir mit der Nächstenliebe haben, ist sie uns doch immer noch näher und verständlicher als die Liebe zu Gott. Denn offen gesagt: Wie soll man eigentlich jemanden lieben, den man nicht sehen kann? Wie soll man jemanden lieben, der unsere Vorstellungskraft übersteigt? Setzt Liebe nicht ein Mindestmaß an Nähe und Vertrautheit voraus? Wie aber kann es Nähe und Vertrautheit geben im Verhältnis zu Gott, der so total anders ist als wir? „Gott lieben“, das klingt als sollte man den Mond küssen oder den Himalaya umarmen. Denn Gott ist für uns ja „überdimensional“. Man kann staunend zu ihm aufschauen, kann ihn verehren, fürchten und anbeten – aber „lieben“? Muss man nicht ein Gesicht vor Augen haben, um lieben zu können? Wie also soll man den lieben, von dem wir uns kein Bild machen dürfen? Trotzdem sagt Jesus, gerade das sei wichtiger als alles andere. Und ich will darum versuchen, annäherungsweise zu beschreiben, wie „Liebe zu Gott“ aussehen könnte. Ich muss dazu allerdings einen Umweg gehen indem ich sie bitte, sich innerlich an den Meeresstrand zu versetzen – genauer gesagt an die Ostsee nach Heiligendamm. Kennen sie Heiligendamm? Das ist ein altes Seebad in Mecklenburg-Vorpommern, das eine besonders beeindruckende Kulisse bietet, weil dort eine Reihe alter, herrschaftlicher Villen stehen, die sich am Ostseestrand entlangziehen wie Perlen an einer Schnur. Jedes dieser Gebäude ist auf seine Weise „schön“. Jedes ist eine Huldigung an die Natur, die es umgibt. Und wer von der Seebrücke aufs Land schaut, der erkennt, dass die Bauten ganz akkurat zum Meer hin ausgerichtet sind. Kaum fünfzig Meter vor den Häusern rollen die Wellen der Ostsee auf den Strand. Und die lange Reihe der alten Villen schaut gerade so aufs Meer, wie die Sitzreihen in einem Theater zur Bühne hin orientiert sind. Wie Schaulustige hinter einer Absperrung – so stehen die Häuser dem Meer gegenüber. Und ihre gemeinsame Ausrichtung auf das Meer verbindet sie zu einer Einheit. Es ist nicht die Einheit des Uniformen und Stereotypen – nein: Jedes dieser Häuser ist individuell, keins ist wie das andere. Und dennoch sind sie ganz einig, sind sozusagen diszipliniert in ihrer Ausrichtung auf das Meer, und sind alle gleichermaßen fixiert auf das Naturschauspiel, dem sie gegenüberstehen. Ja, diese Häuser bilden gerade dadurch eine Einheit, dass sie nicht einander, sondern das Meer anschauen. Schulter an Schulter stehen sie da, in der Solidarität derer, die sich das große Schauspiel nicht entgehen lassen wollen. Denn die hohen Fenster und Türen, was sind sie anderes als weit aufgerissene Augen und Münder? Ja, diese Häuser haben Gesichter, die sie erwartungsvoll der See zuwenden, um alle Eindrücke aufzunehmen, die von dort her kommen. Die Fassaden sind der schönen und rauen Natur hingegeben, vor der sie einerseits schützen, von der sie aber andererseits alles empfangen möchten: Die salzige Luft, den heftigen Wind und den Meeresregen, die wärmende Sonne und die Abendkühle, das sanfte Rauschen der Wellen und das Brüllen des Sturms. Wie Verehrer stehen diese Häuser dem Meer gegenüber, voller Zuneigung und Bewunderung – aber ohne plumpe Vertraulichkeit. Denn sie halten respektvollen Abstand zum Strand und zeigen damit Achtung vor den Fluten, die gefährlich werden, wenn man ihnen zu nahe tritt. So spiegeln diese Häuser die Schönheit und die Macht der Naturgewalt, der sie gegenüberstehen, wider. Und eben in dieser Spiegelung liegt ihr ganzes Wesen. Denn diese Häuser sind, was sie sind, nur in der Beziehung zum Meer. Anderswo würden sie protzig wirken und deplatziert. Würde man sie in eine öde Landschaft versetzen, an einen Ort, wo ihre Gesichter ins Leere schauten, so wären sie fehl am Platze, denn diese Häuser tragen gewissermaßen Sonntagskleider. Sie stehen da in „würdevoller Sammlung“. Sie sind gebaut, um „andächtig“ aufs Meer zu blicken. Doch ohne das Meer – ohne das Gegenüber seiner Ehrfurcht gebietenden Größe und Schönheit – was bliebe von ihnen? Wer bräuchte ihre großen Fenster und Balkone, wenn es von dort nichts zu sehen gäbe? Insofern sind diese Häuser darauf angewiesen, am Meer zu stehen. Sie brauchen das Meer – und übermitteln dem Betrachter damit eine Botschaft. Ihre Fassaden sind Gesichter, die gebannt hinausstarren in eine faszinierende Ferne, und die den Betrachter einladen, ihrer Blickrichtung zu folgen. Ja, diese Strandvillen appellieren an uns, es ihnen gleichzutun und ebenfalls unser Gesicht dem Meer zuzuwenden. Und wenn man sie lang genug betrachtet, bekommt man Lust, dort auf einem der Balkone seinen Liegestuhl aufzustellen und einfach nur ganz lange und ganz andächtig auf die See hinauszuschauen... Nun, sind wir jetzt vom Thema abgekommen? Wollten wir nicht über „Gottesliebe“ reden? Haben wir uns darum gedrückt? Nein – ich meine, wir sind durchaus bei der Sache geblieben. Denn für mich sind solche Häuser ein Sinnbild dessen, was „Liebe zu Gott“ bedeuten könnte. Gott lieben – das heißt zuerst: Ihm volle Aufmerksamkeit zu schenken, auf ihn fixiert und auf ihn ausgerichtet zu sein – so wie jene Häuser auf das Meer ausgerichtet sind. Wer Gott von ganzem Herzen liebt, der ist auf ihn konzentriert und ist ihm zugewandt. Er dreht sich nicht ständig hierhin und dahin, um tausend Dinge wichtig zu nehmen – darunter vielleicht auch Gott. Sondern allein Gott gehören seine Gedanken, an ihm hängt er und auf ihn schaut er wie jene Häuser auf das Meer. Was schließlich könnte einen Liebenden ablenken vom Gegenstand seiner Liebe? Gott zu lieben, das heißt mit allen Fasern des eigenen Seins die Größe und Herrlichkeit Gottes in sich aufzunehmen und ihm hingegeben zu sein. Es heißt, die Fenster weit aufzureißen, damit Gottes Wort hereinschallt. Es heißt, die Balkontüren öffnen, damit Gottes Geist zu uns hereinweht. Es heißt, das Gesicht Gott entgegenstrecken, damit seine Sonne es wärmt. Und daraus ergibt sich dann von selbst, dass der, der sich hineingibt in die Liebe zu Gott, darin ganz aufgeht, auf sein Gegenüber angewiesen ist und von ihm geprägt wird. Denn so wie jene Häuser dem Meer, so ist der Gläubige Gott zugewandt. Er ist, was er ist, nur in der Beziehung zu Gott, und will abgesehen davon auch gar nichts sein. Gott ehrfurchtsvoll und freudig gegenüberzustehen, mit großem Respekt, aber ohne Angst, das macht das Wesen und die Bestimmung des Gläubigen aus. Und das verbindet ihn dann auch mit den Glaubensgeschwistern, die Schulter an Schulter neben ihm stehen – wie jene Häuser nebeneinander stehen. Natürlich: So wie Häuser verschieden sind, so sind es auch die Christen. Aber diese Verschiedenheit trennt sie nicht, denn die gemeinsame Ausrichtung, die gemeinsame Offenheit für Gott, verbindet sie über alle kulturellen und konfessionellen Schranken hinweg. Sie sind die Gemeinschaft derer, die ohne Gott nicht sein wollen. Sie sind aus Liebe an ihn gebunden, empfinden diese Bindung aber nicht etwa als lästige Abhängigkeit, sondern als ein großes Glück. Denn etwas anderes als die Gemeinschaft mit dem Geliebten begehrt die Liebe ja nicht. Die ganze fröhliche Hinwendung zu Gott, das Sich-ausstrecken nach Gott, hat kein anderes Ziel, als die Gemeinschaft mit ihm. Und trotzdem – sozusagen absichtslos – hat die liebende Zuwendung zu Gott auch eine Außenwirkung. Denn sie lädt andere Menschen ein, die Bewegung mitzuvollziehen. So wie jene Häuser, die aufs Meer hinausblicken und uns damit einladen, es ihnen gleichzutun, so sind auch Menschen, die in der Hinwendung zu Gott Frieden finden. Sie spiegeln etwas wider von der Größe und Schönheit Gottes. Sie reflektieren etwas von seinem Glanz, weil sie sich diesem Glanz entgegenstrecken. Man spürt, dass sie bei Gott etwas finden, was man in der Welt nicht finden kann. Und sie reizen dadurch andere zur Nachahmung. Jene Häuser in Heiligendamm sind erwartungsvoll und respektvoll dem Meer zugewandt, sie bejahen das Meer, sie leben vom Meer, sie öffnen sich dem Meer – und genau das scheint mir die Haltung zu sein, die wir Menschen Gott gegenüber einnehmen sollten…