Jesus hält sich nicht damit auf, was einer war, oder was er vorgibt zu sein, sondern konzentriert sich auf das, was der Mensch werden soll, weil jeder dazu bestimmt ist, ein Ebenbild Gottes zu sein. Nicht woher der Mensch kommt interessiert Jesus, sondern ob er mitgeht und unterwegs ist zum Reich Gottes. Und sein Gegenüber auf diesem Weg voranzubringen – eben das heißt für Jesus Nächstenliebe. Sie besteht nicht darin, einem das zu geben, was er wünscht, sondern das, was er nötig hat, um Gott näher zu kommen. Braucht‘s dafür Strenge, so ist Jesus streng. Und braucht‘s dafür Milde, so ist er mild.
Der Apostel Paulus gibt uns eine Weisung, die erstmal harmlos, nett und einfach daherkommt, die aber bei näherer Betrachtung abgründig wird, anspruchsvoll und tief. Denn er sagt:
„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“
(Röm 15,7).
Wir sollen einander annehmen, heißt das – und da annehmen das Gegenteil ist von ablehnen und hassen, scheint es hier nur um eine Variante des Liebesgebotes zu gehen. Jesus war freundlich zu euch, sagt dieser Vers, also seid auch freundlich untereinander. Jesus hat euch geliebt, also tut es ihm nach und liebt auch eure Mitmenschen. Nur – wenn man genau liest, steht da ja ein „wie“: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat.“ Und wenn man da stutzig wird und das Wörtchen ernst nimmt, muss man fragen, worauf es uns verweist. Wie nimmt Jesus denn an – und auf welche Weise? Ist es Jesu Art, Menschen „bedingungslos“ anzunehmen, „nett“ und „offen“, „freundlich“ und „liebevoll“, „ohne jeden Vorbehalt“? Ist er lächelnd mit offenen Armen auf jeden zugegangen – und ist es das, was wir uns zu Eigen machen sollen? Ich fürchte, viele fassen den Text genau so auf, als sei er nur eine Variante von „seid nett zueinander“. Aber wenn wir diese Lesart am Neuen Testament überprüfen, bewährt sie sich nicht. Denn Jesus war längst nicht zu allen Menschen nett und freundlich. Und wenn Jesus das unter Nächstenliebe verstanden hätte, „nett und freundlich“ zu sein, dann hätte er gegen diesen Grundsatz selbst recht häufig verstoßen. Denken wir nur mal an den reichen Jüngling, der Jesus nachfolgen wollte und an der Forderung Jesu scheitert, er müsse vorher seinen gesamten Besitz abgeben. Oder denken wir an den anderen, dem Jesus nicht erlaubte seinen toten Vater zu beerdigen. War das nicht hart? Wenn die Familie Jesus beanspruchen wollte, hat er manchmal seine eigene Mutter ziemlich grob abgewiesen. Und die kanaanäische Frau, die sich verzweifelt an ihn wandte, hat er wegen ihrer heidnischen Herkunft als „Hund“ bezeichnet. Die Schriftgelehrten und Pharisäern hat er mehrfach vor den Kopf gestoßen und hat ihnen entgegengerufen: „Ihr Schlangen, ihr Otternbrut! Wie wollt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen?“ Und die Samariterin am Brunnen spricht er ganz offen auf ihre vielen Männer-geschichten an und stellt sie damit bloß. Seinen getreuen Petrus blafft er einmal heftig an und sagt: „Geh weg von mir, Satan! Du bist mir ein Ärgernis!“ Gegen die Händler im Tempel wird Jesus sogar offen gewalttätig! Die Städte Chorazin, Betsaida und Kapernaum werden von Jesus regelrecht verflucht. Und von Judas sagt er, es wäre besser für ihn, nie geboren zu sein. Nein, wirklich: Wenn es Jesu Grundsatz gewesen wäre, zu allen „lieb“ zu sein und ohne Vorbehalt jeden zu umarmen, so hätte er gegen diesen Grundsatz sehr häufig verstoßen. Er wäre dann ein sehr inkonsequenter und schlechter Lehrer. Und weil er das nicht ist, wird uns klar, dass die Sache komplizierter liegt. Die Art, wie Jesus Menschen annimmt, ist nicht einfach die „freundliche“ Art. Er ist nicht mit dem unterschiedslosen Lächeln des Dalai-Lama herumgelaufen. Sondern Jesus begegnet verschiedenen Menschen auf sehr verschiedene Weise. Aber Jesu Art, Menschen zu begegnen, hat immer mit dem Reich Gottes zu tun, dem zentralen Thema seiner Verkündigung. Und wenn wir sein Verhalten unter diesem Blickwinkel betrachten, kommen wir dem Kern der Sache näher. Denn Jesus lebt in der Überzeugung, dass das Reich Gottes nah herbei gekommen ist, dass mit ihm eine völlig neue Zeit anbricht, und darum für jeden Menschen nur noch wichtig ist, ob er sich dem kommenden Reich öffnet – oder sich davor verschließt. Jesu Lebensthema ist die Gottesherrschaft, die mit ungeheurer Dynamik von der jenseitigen Welt in die diesseitige hineindrängt, die mit großen Schritten auf uns zukommt und jeden Menschen vor eine Entscheidung stellt, die für ihn Heil oder Unheil bedeutet. An Jesu eigener Person scheiden sich die Geister! Am Verhältnis zu ihm entscheidet sich, ob einer verloren geht oder den großen Aufbruch mitmacht! Denn durch das Kommen des Reiches werden die Karten völlig neu verteilt, die alte Welt vergeht, und es zählt nur noch das Künftige. Da ist jeder gefragt, ob er sein altes Leben hinter sich lässt, um frei zu sein für den Neubeginn mit Jesus! Und eben darum ist es Jesus so völlig egal, was ein Mensch früher war oder was er bis heute erreicht hat. Nicht wo einer herkommt, interessiert Jesus, sondern wohin er unterwegs ist! Und er legt darum niemand auf das fest, was er bisher gewesen ist. Jesus fragt nicht nach dem Bildungsgrad, dem Geschlecht, dem Ansehen oder dem Strafregister. Er fragt selten, was einer will, und kümmert sich auch kaum darum, was Leute von ihm erwarten. Jesus hält sich nicht damit auf, was einer war oder was er vorgibt zu sein, sondern Jesus konzentriert sich auf das, was der Mensch werden kann und werden soll, weil ein jeder dazu bestimmt ist, ein Kind und Ebenbild Gottes zu sein. Nicht woher der Mensch kommt, interessiert Jesus, sondern ob er mitgeht und unterwegs ist zum Reich Gottes. Auf genau diesem Weg will Jesus sein Gegenüber voranbringen – und eben das heißt für ihn einen Menschen „annehmen“, dass er wegnimmt und beiseite räumt, was den Fortschritt dieses Menschen hemmt, und gleichzeitig schenkt, was der andere zu seinem Fortschritt braucht. Jesus ist restlos an der Zukunft orientiert. Und das erklärt, weshalb er sich über die gesellschaftlichen Schranken seiner Zeit und auch über religiöse Ordnungen des Alten Testamentes so locker hinwegsetzen kann. Es ist Jesus relativ egal, dass Zachäus bisher ein Zöllner und ein Betrüger war. Er ermöglicht der Ehebrecherin einen neuen Anfang. Und er scheut nicht mal den Umgang mit Prostituierten. Jesus lässt viele fromme Leute links liegen und geht dafür auf Heiden und Ausländer zu. Er redet mit Samaritern, die man damals zu einer üblen Sekte rechnete. Er lässt sich von einer stadtbekannten Sünderin berühren und salben. Er nimmt sehr fragwürdige Leute in Schutz. Und mit dem Schächer am Kreuz befördert er sogar einen Schwerverbrecher direkt ins Paradies hinein, während er angesehenen und frommen Leuten mit der Hölle droht. Ich meine aber, dass auch dies Letztere dem entspricht, was Jesus unter „Liebe“ versteht. Den wahre „Liebe“ ist nicht, wenn ich einem gebe, was er wünscht oder was ihm angenehm ist, sondern wenn ich ihm gebe, was er braucht, um Gott näher zu kommen. Liebe kann auch darin bestehen, dass ich dem Anderen auf einem falschen Weg massiv widerstehe und mir damit seinen Zorn zuziehe! Denn nicht das irdische Wohlergehen zählt, nicht die konfliktfreie Harmonie heute, sondern viel wichtiger ist das ewige Heil von morgen, das mit Gottes Reich kommt, und das einer leicht verpasst, wenn er nicht wachgerüttelt wird. Durch Gottes Zugriff auf diese Welt werden die Karten neu gemischt. Und darum hat jeder Jesus gegenüber dieselbe Chance. Da wird niemand auf seine Defizite festgelegt oder auf seine alte Rolle, aber jeder wird herausgefordert, nach den neuen Regeln des Reiches Gottes zu leben. Alle Klassenschranken und Unterschiede fallen bei Jesus weg: Jude und Heide, Mann und Frau, reich und arm, klug und dumm spielen keine Rolle für ihn. Aber an die Stelle der alten Unterscheidungen tritt nicht milde Indifferenz, sondern eine neue Unterscheidung, weil Jesus nur noch zwei Gruppen kennt, in die die Menschheit zerfällt: Jesus unterscheidet die, die sich dem in Jesus erschienenen Reich jetzt öffnen, von denen, die sich ihm verschließen. Und nur dieser Unterschied zählt für ihn. Es interessiert ihn nicht, worin wir bisher versagt haben, aber er will, dass wir endlich die Menschen werden, die wir von Gott her sein sollen. Was uns daran hindert an Krankheit, Schuld, Abhängigkeit und Unverstand, das will Jesus radikal wegnehmen, und was uns zu diesem Aufbruch fehlt an Kraft, Vergebung, Segen, Gnade und Zuversicht, das will Jesus uns schenken. Zur Heilung der Sünder bedarf es gleichermaßen scharfer Schnitte und milder Salben! Und Jesus als unser Arzt hat beides im Gepäck, so dass die Begegnung mit ihm stets einer Operation am offenen Herzen gleicht. Aber Jesus scheut bei seinem Eingriff vor nichts zurück, was das Gegenüber auf dem Weg zu Gott voranbringt. Er führt dabei keine rückwärtsgewandten Debatten! Nur die Entwicklung vorwärts zählt – und die alten Festlegungen, Verstrickungen und Bequemlichkeiten, die uns behindern, wischt Jesus beiseite. Aber es ist darum auch keiner, der sich nach dem Heil ausstreckt, wegen „schlechter Voraussetzungen“ chancenlos. Wo Menschen selbstzufrieden verharren, ist Jesus keine Provokation zu scharf, um sie in Bewegung zu bringen.
Wo Menschen aber für Gott frei werden wollen, da ist ihm keiner zu schuldig oder zu schmutzig, als das Jesus ihm nicht freudig mit Milde und Barmherzigkeit entgegenkäme. Jesus weiß, dass (nicht für ihn, sondern für sein Gegenüber) alles auf dem Spiel steht. Er will Menschen in das kommende Reich Gottes einbinden. Aber dazu muss sich eben nicht nur das Reich für die Menschen öffnen, sondern auch der Mensch für das Reich. Braucht‘s dafür Strenge, so ist Jesus streng. Und braucht‘s dafür Milde, so ist Jesus mild. Hilft Konfrontation, so kann Jesus heftig streiten. Hilft aber Trost, so verblüfft uns Jesu große Nachsicht. Und in alledem erweist er sich als ein wahrer Seelsorger, dass er um nichts anderes als um die Seelen sorgt und für sie sorgt, indem er ihnen genau das gibt, was sie brauchen, um auf dem Weg zu Gott, voranzukommen. Was also war Jesu Art, Menschen „anzunehmen“? Seine „Annahme“ ist insofern bedingungslos, als er jederzeit bereit ist, die Person des Sünders von der Sünde zu unterscheiden. Wer sich zu ihm flüchtet, ist willkommen und muss keine Vorleistungen bringen, um kommen zu dürfen. Die ganze Qualifikation besteht darin, dass einer sich mühselig und beladen weiß und bei Christus seine Last loswerden will. Doch ohne das – ohne dass einer sich nach der Gnade ausstreckt – geht es nicht. Denn wer an seinem alten Leben festhält, weil er stolz und mit sich zufrieden ist, wer sich von seiner Sünde gar nicht unterscheiden will, weil er sie nicht als Problem ansieht, der bleibt verstrickt, der beharrt im Falschen – und gelangt auch nicht zu Christus. Das dann aber nicht, weil er nicht kommen „dürfte“, sondern weil er das, was bei Christus zu finden wäre, gar nicht will. Der Zugang zu Christus ist offen, aber er verlangt von mir das Eingeständnis, dass ich nötig habe, was Christus für mich tun will. Und darum finden gerade die Stolzen, die Überfrommen und Anständigen diesen Zugang nicht. Die hingegen, die sich bedürftig wissen, denen kommt Christus zuvor und empfängt sie nicht nur herzlich, er erträgt sie nicht bloß, sondern trägt sie voran, dient ihnen, wäscht ihnen sogar die Füße und gibt sein Leben für sie. Ja, Christus will unsere Not zu seiner Not machen. Als unser Arzt hält er bittere und süße Medizin bereit, macht sich die Hände schmutzig an unseren Wunden und erträgt das Gejammer um unserer Heilung willen. Das ist Jesu Art, einen Menschen „anzunehmen“, das ist der Dienst, den er leistet, und das ist die Therapie, auf die wir uns einlassen, wenn wir ihn an uns heranlassen. Was bedeutet dann aber jener Vers: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“? Es ist ein Appell, den Paulus an die Christen in Rom richtet, und der sich darum primär auf das Miteinander innerhalb der christlichen Gemeinde bezieht. Denn es wird vorausgesetzt, dass die, die einander annehmen sollen, bereits von Christus – als dem Dritten im Bunde – angenommen wurden. Sind sie aber durch Christus zur Gemeinschaft verbunden, so soll ihr Verhältnis untereinander bestimmt werden durch das Vorbild Christi. Und das heißt konkret, dass die wechselseitige Annahme vorbehaltslos sein soll, wie sie das bei Christus war, dass sie die Bereitschaft zum Dienst einschließt, dass sie Kritik aber auch keineswegs ausschließt: D.H.
(1.) Wo Christen zusammenkommen, dürfen Herkunft, Vergangenheit, Bildungsstand und sozialer Rang der Gemeinschaft nicht im Wege stehen. Und wo einer belastet dasteht, weil er sich falsch verhält und selbst daran leidet, da darf es keine Vorbehalte geben und keine Überheblichkeit, sondern die christlichen Geschwister sollen jederzeit und immer wieder bereit sein, die Person von ihrer Sünde zu unterscheiden, und die Person anzunehmen trotz unannehmbarem Verhalten.
Zum (2.) verpflichtet uns aber das Vorbild Christi, einander nicht nur mit mürrischem Gesicht zu ertragen und irgendwie zu dulden, sondern einander zu dienen. Einer ist dem anderen seinen Beistand schuldig, so dass er ihm auf seinem Weg zu Gott nach Kräften voran hilft, bedenkt, was der andere zu Heil und Heilung nötig hat, und ihn auch in weltlichen, ganz praktischen Dingen als Bruder und Schwester behandelt. Denn wenn ich weiß, dass Christus mich erträgt, soll ich auch meine Mitchristen ertragen und soll die Liebe, die mir von Christus wiederfährt, an sie weitergeben.
(3.) aber scheint mir wichtig, dass Kritik nicht durch Liebe ausgeschlossen wird, sondern gerade um der Liebe willen nötig ist. Christi Liebe besteht ja auch nicht darin, dass er das Falsche an uns tolerieren, übersehen oder gutheißen würde! Sondern wo es falsch lief, hat Jesus mit seinen Jüngern heftig gestritten, hat den Finger in die Wunden gelegt und war überaus streng – war es aber nicht etwa um Recht zu haben, sondern war streng um des Anderen willen. Den Anderen annehmen, heißt darum auch für Christen nicht, jedem Konflikt aus dem Weg zu gehen oder in allem nachgiebig zu sein, sondern in allem möglichst hilfreich zu sein. „Annahme“ bedeutet nicht, christliche Liebe wie eine süße Puddingsoße über alles auszugießen, bis jeder Missstand und jedes Krebsgeschwür unter der süßen Soße, verschwunden ist. Und darum heißt Nächstenliebe auch für uns, nicht jedem das Angenehme zu geben, das er vielleicht will, um sich wohlzufühlen, sondern das Hilfreiche, das er braucht, um Gott näher zu kommen. Nicht dass es ihm äußerlich gut geht, sondern dass er innerlich heil wird, soll uns interessieren. Das aber geht uns wirklich an – und das sollen wir uns auch etwas kosten lassen. Denn wenn Christus sich nicht zu schade war, diesem Menschen zu dienen, wie könnte ich mir dann zu schade sein? Und wenn ich verdammen wollte, was Christus annimmt, käme ich da nicht in Konflikt mit ihm? Weiß ich, dass Jesus über seinen Schatten gesprungen ist, um mich anzunehmen, der ich doch eigentlich unannehmbar war und bin, darf ich mich dann zieren den anderen anzunehmen, der doch auch nicht schlimmer ist als ich – sondern bloß anders? Zur Sünde müssen wir nicht ja sagen, zum Sünder aber schon. Darum gebe Gott uns den nötigen Verstand, das eine vom anderen zu unterscheiden und einander dann anzunehmen, wie – und weil – Christus uns angenommen hat…