Gott will auf der Rankingliste unserer Prioritäten den ersten Platz einnehmen – oder keinen. Und wenn wir ihm statt der Hand nur den kleinen Finger reichen, lässt er uns stehen. Denn Gott ist „absolut“. Und das Absolute nur „relativ“ wichtig zu nehmen, wäre widersinnig. Der Mensch soll darum nicht umherschweifen wie ein herrenloser Köter, der jedem nachläuft und jede Hand schleckt, die ihn füttert, sondern soll in unbedingter Treue auf Gott fokussiert sein, um in Freuden, Nöten, Hoffnungen und Ängsten alles nur von ihm zu erwarten.

Das erste Gebot

Du sollst nicht andere Götter haben… 

 

Beim Lesen der Zehn Gebote geht mancher über das erste rasch hinweg. Denn einerseits kommen noch neun weitere. Und andererseits scheint es leicht zu sein. Gott sagt: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.“ Und was das heißt, ist leicht zu verstehen. Denn Gott will offenbar zu den Gläubigen eine exklusive Beziehung haben, so wie ein Ehemann darauf besteht, der einzige Ehemann seiner Frau zu sein. Das kann man nachvollziehen und denkt auch gleich „ist in Ordnung“. Denn dieses Problem haben wir gar nicht. Die Griechen und Römer – die kannten zu ihrer Zeit viele Götter! Mag sein, dass die sich nicht immer klar entscheiden konnten. Aber wir heute sind nicht in Gefahr, dass wir an zu viele Götter gleichzeitig glauben, sondern haben schon genug Schwierigkeiten, an den einen zu glauben! Ein Übermaß religiöser Beziehungen liegt uns fern. Denn wenn überhaupt, rechnet der moderne Mitteleuropäer nur mit einem Gott. Und entsprechend schnell könnte man hinter das erste Gebot einen Haken machen. Doch würden wir dabei übersehen, dass keines der Zehn Gebote bloß auf die Unterlassung des Falschen zielt, sondern ein jedes die aktive Erfüllung des Richtigen fordert. Anders gesagt: das erste Gebot verneint die Beziehung zu fremden Göttern nur, damit wir unsere Beziehung zu dem einen, wahren Gott umso entschlossener und intensiver leben können. Die anderen werden nicht etwa ausgeschlossen, damit Leere herrscht, sondern damit sich in dem dafür geschützten und reservierten Raum die Zweisamkeit um so freier entfaltet. Es geht darum, jene besondere Nähe möglich zu machen, die es nicht geben kann, wenn der Partner „einer unter vielen“ ist. Und so zielt das Erste Gebot auch nicht auf einen „theoretischen Monotheismus“, der bloß im Kopf stattfindet, sondern auf eine gelebte Vertrauensbeziehung zwischen Mensch und Gott, die konkurrenzlos und umfassend das gesamte Leben bestimmen soll. Der gläubige Mensch soll für alles Wesentliche, das ihn bewegt, nur eine Anlaufstelle haben, um sich mit all seinen Freuden und Nöten, Hoffnungen und Ängsten, Fragen und Sorgen immer an die Adresse Gottes zu wenden und von keiner anderen Instanz viel zu erwarten. Gott soll der Eine sein, an dem das Herz hängt und auf den man sich ganz verlässt, um in aller Bedrängnis bei ihm Zuflucht zu suchen, bei ihm unterzukriechen, von ihm Hilfe zu erwarten und ebenso alles Glück, jeden Erfolg und jeden Genuss ihm allein zu danken. Der Mensch soll nirgends als bei Gott zur Ruhe kommen und sich von niemand sonst etwas versprechen, niemand anderem anhängen, sich keinem hingeben und niemandes Urteil so wichtig nehmen wie das seines Schöpfers. Ganz in diesem Sinne ruft der Psalmbeter zu Gott: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde“ (Ps 73,25). Und genau diese innere Haltung, in der ein Mensch auf nichts so aus ist wie auf Gott, weil seine Seele nach Gott dürstet, und der ganze Mensch nach Gott verlangt (Ps 63,2) – genau diese Haltung fordert das erste Gebot, damit der Mensch um Gottes Willen alles lassen kann, wenn ihm nur Gott selbst nicht genommen wird, und er auf alles verzichten kann, wenn sich nur Gott nicht entzieht. Der Mensch soll nicht umherschweifen wie ein herrenloser Köter, der hier oder da nach seinem Glück Ausschau hält, jedem nachläuft und jede Hand schleckt, die ihn füttert, sondern er soll in unbedingter Treue auf Gott fokussiert sein, der allein alles Gute zu geben und in allen Nöten zu trösten vermag. Der geschaffenen Dinge soll der Mensch sich bedienen, soweit sie ihm helfen Gott näher zu kommen, er soll aber jederzeit bereit sein, sie um Gottes willen auch wieder fahren zu lassen, so dass weder Geld noch Gut, Macht, Ehre, Lust, Klugheit, Familie oder Freundschaft jemals zu Gott in Konkurrenz treten. Denn Gott will den Gläubigen ihr „ein und alles“ sein und duldet nichts, was ihm diesen Rang streitig macht. 

Damit dürfte klar sein, was das erste Gebot fordert. Aber im selben Maße ist uns wohl auch bewusst geworden, wie fern es uns liegt. Denn viele Menschen finden Gottes darin formulierten Anspruch regelrecht empörend. Erwartet Gott wirklich, dass wir alles auf eine Karte setzen und ihn allein zu unserem Lebensinhalt machen? So ganz ohne „Plan B“, ohne Vorbehalt, ohne Absicherung und Exit-Strategie? Ist es nicht viel klüger, mehrere Eisen im Feuer zu haben und dadurch das Risiko zu streuen? Muss es denn gleich diese exklusive Hingabe sein, in der man sich mit Haut und Haar an Gott verliert? Geht’s nicht etwas kleiner, da doch im Leben neben der Religion noch ein paar andere Dinge wichtig sind? Nein, sagt Gottes Wort. Und wenn der moderne Mensch deswegen große Augen macht, bleibt es doch bei diesem „Nein“. Denn das Paket, das Gott anbietet, ist nicht verhandelbar. Es genügt ihm nicht, auf der Rankingliste unserer Prioritäten Platz 7 oder 9 zu besetzen. Er nimmt den ersten – oder keinen. Und wenn wir ihm statt der Hand nur den kleinen Finger reichen, lässt er uns stehen. Denn Gott ist schließlich „absolut“. Und das Absolute nur „relativ“ wichtig zu nehmen, wäre widersinnig. Das Letztgültige wie etwas Vorläufiges, und das Notwendige wie etwas Zufälliges zu behandeln – das funktioniert schon gedanklich nicht. Und es funktioniert praktisch noch viel weniger. Denn all jene, die den Kompromiss versucht haben, viele verschiedene Leidenschaften zu pflegen und dann „unter anderem“ auch noch gläubig zu sein, sind damit gescheitert. 

Jona wollte Gott – und seinem eigenen Kopf folgen. David wollte Gott – und die Frau eines anderen haben. Der reiche Jüngling wollte Gott – und seinen Reichtum behalten. Hannas und Saphira wollten Gott – und ein kleines Geheimnis hüten. Judas wollte Gott – und die dreißig Silberlinge. Pilatus wollte Gott – und den Beifall des Volkes. Doch wie ist es ihnen ergangen? Sie sind mit „sowohl als auch“ nicht weit gekommen. Denn Gott nimmt kein halbes Herz, wenn man sich scheut, ihm das ganze zu schenken. Und alle, die ihn mit einem Teil ihrer Aufmerksamkeit abspeisen wollten, mussten einsehen, dass man zum Unbedingten nicht unter Bedingungen in Beziehung treten kann. Gott ist sich für die zu schade, die um seinetwillen nicht alles geben. Denn er weiß, dass man Vertrauen nicht teilen kann, ohne es zu zerstören. Oder bräuchte irgendwer einen Plan B, wenn er Plan A für ganz verlässlich hielte? Beweist nicht schon die Existenz von Plan B, dass man das Scheitern von Plan A als möglich ansieht? 

Stellen sie sich nur mal einen Mann vor, der zugleich Hosenträger und einen Gürtel trägt. Manche Männer tun das ja. Was würden sie von so jemandem denken, der Hosenträger und Gürtel gleichzeitig benutzt, um seine Hose zu halten? Man wird doch sagen: Wenn er seinem Gürtel vertraute, so bräuchte er die Hosenträger nicht. Und wenn er seinen Hosenträgern traute, so bräuchte er den Gürtel nicht. Wenn er aber beides trägt, kann man daraus nur folgern, dass der Mann weder dem Gürtel noch den Hosenträgern wirklich traut! Er misstraut offenbar beiden – und versucht sich eben darum doppelt abzusichern. Genauso verhält es sich aber, wenn ein Mensch zwei Götter hat. Denn traute er dem einen wirklich zu, dass er für das Gelingen seines Lebens sorgt, wozu bräuchte er dann den anderen? Und traute er dem zweiten zu, dass er sein Leben gelingen lässt, wozu bräuchte er dann den ersten? Wenn er aber beide verehrt und sicherheitshalber zu beiden betet, kann das nur bedeuten, dass er im Grunde beiden misstraut. Und solche Vielgötterei, solch eine Hingabe an vieles, ist nicht etwa doppelter Glaube, sondern nur verdoppelter Unglaube. Es ist, wie der Prophet Elia sagt, ein „Hinken auf beiden Seiten“, das weder Gott noch den Götzen gerecht wird. Denn jeder Mensch kann nur eine letzte Instanz haben, nur einen Lebensinhalt, nur eine oberste Autorität, nur ein höchstes Ziel. Wenn er aber mehrgleisig fährt, um durch mehrfache Absicherung den Schaden zu minimieren, zeigt er nicht etwa viel Vertrauen, sondern gerade wenig. 

Wie bei einem griechischen Tempel sollen möglichst viele Säulen das Dach seines Lebens tragen! Die Gesundheit ist dann eine dieser Säulen, und der Arbeitsplatz eine andere, der Ehepartner stützt das Dach auf seine Weise, und das Aktienpaket tut’s auf eine andere. Weil‘s aber gar nicht genug Säulen sein können, die den Bau stabilisieren, darf sich auch Gott noch dazustellen. Denn es kann ja nicht schaden. Und wenn alle Stricke reißen, hilft vielleicht beten. Man hofft zwar eigentlich, dass man Gott nicht braucht. Aber so für alle Fälle trägt man Hosenträger und Gürtel zugleich! Doch meint jemand wirklich, dass Gott sich als „tragende Säule Nr. 17“ der Gesundheit, dem Arbeitsplatz und den Aktien gleichstellen lässt? Gott kennt uns viel zu gut, um sich darauf einzulassen. Denn wer mehrere Eisen im Feuer hat, ist auch immer geteilten Herzens. 

„Niemand kann zwei Herren dienen“ sagt Jesus, „entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24). Was Jesus da sagt, ist nicht „streng“, sondern nur logisch, und jeder hat es schon erlebt. Man kann nicht zwei oder drei Autoritäten gleichzeitig die oberste Priorität zubilligen, denn wenn die eine dies fordert, und die andere das, kann man sich ja doch nicht zerreißen, sondern muss einer den Vorrang einräumen und die andere zurücksetzen. Wenn‘s aber so ist – versteht es sich dann nicht von selbst, dass Gott die absolute Autorität zukommt, die er im ersten Gebot fordert? Das Absolute kann nie bloß „relative“ Bedeutung haben! Nichts Geschaffenes steht im Rang über dem Schöpfer! 

Wenn uns das aber einleuchtet, wird unser Problem mit dem ersten Gebot nicht kleiner, sondern erst mal größer. Denn da tun sich drei Optionen auf, von denen uns keine so recht gefallen kann. Im ersten Fall verstrickt man sich in den vielen Bindungen an die Welt – und verliert darüber Gott. Im zweiten Fall wirft man sich Gott in die Arme – und verliert darüber die Welt. Und im dritten Fall versucht man durch faule Kompromisse beides zu verbinden, versucht zwei Herren zu dienen – und wird damit keinem gerecht. Man mag sich zwischen drei so schlechten Möglichkeiten gar nicht entscheiden. Aber wie soll es dann gehen? Wenn die Liebe zum Ehepartner nicht mit der Liebe zu Gott konkurrieren darf, scheint es, als ob man besser ins Kloster ginge, um ehelos zu leben. Warum preist die Bibel dann aber gerade die Ehe als eine gute Ordnung Gottes? Wenn das Vertrauen auf meinen Besitz nicht mit dem Vertrauen zu Gott konkurrieren darf, scheint es besser, den Besitz wegzugeben und arm zu leben. Aber wozu hat Gott uns Geschick, Kraft, Verstand und Fleiß gegeben, wenn wir damit nichts erwirtschaften sollen? Wenn unser Herz an nichts hängen darf als an Gott allein, scheint es besser, sich an nichts Irdischem zu freuen. Aber wozu gibt es Musik und Kunst, Sport, Literatur und Geselligkeit, wenn das alles schädliche Ablenkungen sind? Schenkt Gott uns etwa Kinder, damit wir sie nicht lieben? Und lässt er Wein wachsen, damit wir Wasser trinken? Gibt er uns Talente und Kräfte, damit wir nicht damit wuchern? Hat er uns etwa in die Bezüge der Welt hineingestellt, damit wir aus ihnen fliehen? Das wäre widersinnig. Die Lösung kann also nicht darin bestehen, dass der von Gott in die Welt hinein platzierte Mensch entweder der Welt oder Gott den Rücken kehrt. Und die Lösung kann erst recht nicht sein, dass der Mensch zwischen Gottes Gaben und Gott selbst hin- und hergerissen wird, so dass die eine Beziehung immer auf Kosten der anderen geht. Sondern eine gute Lösung kann nur darin bestehen, dass die irdischen und zwischenmenschlichen Bezüge so restlos in die alles beherrschende Gottesbeziehung integriert werden, dass sie nicht mehr zu ihr in Alternative stehen, sondern selbst einen Teil dieser Gottesbeziehung bilden. Sinnstiftend ist dann nicht entweder der Glaube oder der Beruf, sondern der Beruf, den ich im Glauben als die mir von Gott gestellte Aufgabe erkenne. Wärme schenkt mir nicht entweder Gott oder die Familie, sondern die Familie, von der ich glaube, dass sie Gottes Mittel ist, mich zu wärmen und zu stützen. Die Frage, ob ich Gott fürchte oder doch eher den Tod, macht keinen Sinn, weil die kalte Hand, die nach mir greift, auf jeden Fall Gottes Hand ist. Und eine Wahrheit, deren Evidenz mich von Gott wegführt, kann es auch nicht geben, weil alle Wahrheit Gottes Wahrheit ist und mich ihm durch Erkenntnis allemal näher bringt. Ganz egal, welches Gesicht mir gegenübertritt, ich habe es doch immer mit Gott zu tun! Und so wär‘s auch Spott und Hohn auf das erste Gebot, wenn einer neben all den Geschäften und Begegnungen, die seine Woche füllen, am Sonntag noch ein Zeitfenster offenhielte, um in dieser Lücke Gott zu begegnen! Denn entweder hat man immer und überall mit Gott zu tun – oder überhaupt nie. Die Gottesbeziehung steht mit allen anderen Beziehungen so lange im Konflikt, bis diese aufgehoben oder der Gottesbeziehung eingeordnet wurden. Dann allerdings – wenn die Gottesbeziehung alle anderen mit umfasst und alle Strebungen des Herzens in sich integriert – dann verneint sie die verbliebenen Beziehungen nicht, sondern verweist den Gläubigen in seine irdischen Bezüge hinein, die von der Gottesbeziehung her neu geordnet und mit Sinn erfüllt werden. 

Sehe ich dann ein schönes Geschöpf, soll mir bewusst sein, dass ich es eigentlich mit Gottes Schönheit zu tun habe, die er diesem Geschöpf nur vorübergehend geliehen hat. Und fasst mich das Schicksal hart an, muss ich nicht zweifeln, dass es Gottes Härte ist, die er mich nicht grundlos spüren lässt. Suche ich Trost und Geborgenheit, weil ich die Nase voll habe und „nach Hause“ will, darf ich wissen, dass mein wahres „Zuhause“ bei Gott im Himmel ist. Und spüre ich Verantwortung, so ist es nicht die vor der Gesellschaft, sondern letztlich immer meine Verantwortung vor Gott. Im Glauben wird also nicht dies oder das „transparent“ für den Gott, der dahintersteht, sondern alles. Und das vereinfacht das Leben insofern als der Gläubige nicht viele Gegenüber hat, sondern in der Vielfalt des Lebens doch nur eins. Von dem einen Gott kommt sein Glück und seine Not, und sucht er Wahrheit oder Hilfe, kennt er dafür immer nur eine Adresse. Alle Mühe, die nicht letztlich Gott meint, ist verschwendet, und die Zeit, die mich ihm nicht näher bringt, ist vergeudet. Der Gewinn, der vor Gott nicht zählt, war nie wirklich ein Gewinn. Und wer in der Welt nicht Gottes Spuren sah, hat im Grunde gar nichts gesehen. Wer Gottes Wort nicht hört, hat seine Ohren umsonst bekommen. Und wer für Gott nicht lebt, ist lebend schon tot. Umgekehrt gilt aber auch, dass, wer Gott hat, in ihm alles hat und zwischen Himmel und Erde nichts mehr verpassen kann! Wer Gott findet, gewinnt mit einem Griff alles, was jemals die Suche lohnte. Und so gesehen ist das erste Gebot gar keine strenge Einschränkung, sondern eine freundliche Einladung, sich doch nicht mehr mit Nebensächlichem abzuplagen, sondern gleich die Hauptsache zu ergreifen, die alles übrige einschließt. Dass wir diese Chance aber nicht verpassen, sondern sie entschlossen nutzen, das schenke uns Gott, der barmherzig ist und treu – und unser überaus großer Lohn.