Wenn Gott uns leiden lässt, kann das viele Gründe haben. Es kann mir selber nützen oder einem anderen. Es kann zum Vorbild dienen oder zur Abschreckung. Es kann nötig sein, um mir Fehler auszutreiben, oder um andere zur Barmherzigkeit herauszufordern. Es kann Prüfung sein für mich oder öffentliches Zeichen für andere. Es kann der Fluch der bösen Tat sein, der mich gerechter Weise einholt, oder Gottes herzliche Umarmung, die mich am Weglaufen hindert. Es ist schwer anzunehmen – aber man sollte sein Leid nicht für grundlos, sinnlos oder nutzlos halten.   

Schmerz, Sinn und Sinnlosigkeit

Kann Leid zu etwas gut sein?


Wenn wir Leid erfahren, so nimmt es oft großen Raum in uns ein und beherrscht unsere Gedanken bei Tag und bei Nacht. Wir wälzen es hin und her. Es lässt uns nicht los. Aber wird’s von all dem Grübeln und Klagen wirklich besser? Bringt es etwas, alte Wunden offen zu halten und denselben Schmerz immer wieder zu fühlen? Wär’s nicht gesünder, man würde vergessen? Tatsächlich ist es nicht gut, in bodenlosem Leid zu versinken. Es zu verdrängen wäre aber genauso gefährlich. Und so stehen wir vor der Aufgabe, uns leidend mit dem Leid zu beschäftigen – und es dabei dennoch zu bewältigen. Nur den Schmerz, den man versteht, kann man annehmen. Diese Annahme aber – erfordert sie nicht so etwas wie „Einsicht“ in die Notwendigkeit eines Verlustes? Muss man nicht, um den Schmerz akzeptieren und in sein Leben integrieren zu können, einen Grund und einen Sinn darin finden? Und ist nicht eben die scheinbare Sinnlosigkeit des Leides der Hauptgrund, weshalb wir damit hadern? Ja, sprechen wir das ruhig aus: Viele, die unter Krankheit, Tod und Einsamkeit leiden, sehen in ihrem Schicksal einfach nur eine bodenlose Gemeinheit und eine unverdiente Härte, die sie Gott nicht verzeihen können. Sie finden es ungerecht, leiden zu müssen, und sind überzeugt davon, dass sie an Gottes Stelle die Welt viel besser eingerichtet hätten! Aber ganz abgesehen von der Anmaßung die darin liegt: Übersieht man in solcher Klage nicht die konkreten Gründe, die unser Leiden haben kann, die es erklärlich machen, notwendig – und manchmal sogar fruchtbar? Bei einem Theologen des Mittelalters habe ich eine Aufzählung verschiedener Leidensweisen gefunden, die mir in dieser Hinsicht sehr hilfreich erscheint. Jener Mönch namens Heinrich Seuse wurde von einer Ordensschwester gefragt, wozu denn Leid förderlich sein könne. Und er antwortete: „Du sollst wissen, dass sich mancherlei Leiden finden, die auf den Menschen einwirken, und dem, der sie recht aufnimmt, einen guten Weg öffnen zu seiner Seligkeit.“ Dann aber beginnt Seuse die Möglichkeiten aufzuzählen:


(1) Erstens kann es sein, dass Gott über einen Menschen schwere Leiden verhängt gänzlich ohne dessen Schuld, weil Gott ihn erproben will, sehen will, was er taugt und was an ihm dran ist – so wie er z.B. den Hiob prüfte, der ja tatsächlich nichts verbrochen hatte.

(2) Zweitens aber ist es möglich, dass jemand eine Zeit lang leidet, weil danach Gottes Werke um so herrlicher an ihm offenbart werden sollen, so wie das Evangelium von einem blindgeborenen Mann berichtet, von dem Jesus sagt, er sei nur blind gewesen, damit durch seine Heilung Gottes Macht vor aller Welt sichtbar werde.

(3) Daneben, sagt Seuse, gibt es natürlich auch das selbstverschuldete Leid, in dem jemand gerechter Weise seine Untaten büßt, so wie z.B. das Leiden des Schächers, der mit Christus gekreuzigt wurde und der von sich selbst bekannte, er sterbe verdientermaßen diesen schändlichen Tod. So einer erntet nur, was er gesät hat, der Fluch der bösen Tat holt ihn ein – und nichts daran ist rätselhaft.

(4) Eine vierte Gruppe bilden jene Menschen, die hinsichtlich des konkreten Leidens das sie befallen hat keine Schuld tragen, die aber sonst einen Mangel an sich haben, um dessentwillen Gott ihm Leiden schickt, so wie z.B. Gott den übermäßigen Stolz eines Menschen durch eine Krankheit niederbeugen kann, dabei den Menschen auf sich selbst verweist und seine Überheblichkeit schmerzlich durch Schmerzen vernichtet.

(5) Fünftens ist damit zu rechnen, dass Gott etliche Leiden in der guten Absicht gibt, dem Menschen dadurch noch größere Leiden zu ersparen, so wie manche Leute sich ein Bein brechen und dadurch das Flugzeug verpassen, dass mit allen Passagieren abstürzen wird – oder wie manchem Kranken durch einen raschen Tod eine jahrelange Leideszeit erspart bleibt. Ja, manchmal ist Gott gerade darin gnädig, dass er unsere Wünsche nicht erfüllt, weil es törichte Wünsche sind, deren Folgen wir nicht überblicken.

(6) Zum sechsten kennt Seuse Menschen, die leiden, weil sie sich für andere aufopfern oder um des Glaubens willen Verfolgung ertragen. Deren tapferes Leiden, meint Seuse, ist ein Zeugnis ihrer großen Liebe und ihrer Glaubensstärke, die sie durchaus gern beweisen. Sie wollen etwas bewusst auf sich nehmen, um Gottes und der Menschen willen, und tun damit viele gute Werke, die nicht tun kann, wer das Leiden scheut.

(7) Doch gibt es daneben in einer siebten Gruppe auch wieder eitles und närrisches Leiden, das Gott gar nicht extra verhängen muss, sondern das der Mensch sich selbst zuzieht und einhandelt, indem er seinem eigenen Ehrgeiz und seiner Gier dient, sich selbst dafür prostituiert, seine Seele verkauft für kurze Lust, und durch das Böse vom Bösen selbst Leid erfährt als wohlverdienten Lohn. Wer sich an Vergängliches klammert und sich ins Vergängliche verstrickt, muss natürlich mit dem Vergänglichen vergehen – und es versteht sich von selbst, dass solcher Schmerz keine positive Perspektive hat.

(8) Doch in der achten Gruppe, die Seuse nennt, ist das wieder ganz anders. Denn dorthin gehören Leute, die Gott gerne erreichen und retten würde, die ihm aber zu ihrem eigenen Schaden widerstreben und immer wieder in das oberflächliche Vergnügen und in die Ablenkung fliehen. Solche Leute zieht Gott zuweilen durch Leiden zu sich hin: Wohin sie sich auch wenden, um Gott zu entrinnen, verstellt er ihnen durch Unglück und Leid den Fluchtweg, hält sie zu ihrem eigenen Besten an den Haaren fest und rüttelt sie wach. Sie stellten sich gerne taub, um Gottes Wort nicht hören zu müssen, aber durch den lauten Schmerz verschafft sich Gott Gehör.

(9) Neuntens erwähnt Seuse jene Leute, die gar keine echten Leiden haben, außer dem, dass sie sich hineinsteigern und für groß veranschlagen, was in Wahrheit nicht für groß zu halten ist. Sie weinen lauthals, weil sie eine Stecknadel verloren haben, schreien Zeter und Mordio und machen sich selbst ein schlimmes Leiden in Dingen, die gar keine Leiden sind.

(10) In die zehnte und letzte Abteilung stellt Seuse dann aber jene Menschen, die Gott dem Vorbild Christi gleichgestaltet, indem er ihnen ein Kreuz auferlegt. Das ist das edelste und beste Leiden, meint Seuse, denn wie Christus sich im Leiden geduldig zeigte, so lässt Gott auch einige seiner liebsten Freunde großes Leid tragen in Geduld, damit die große Menge der ungeduldigen Menschen bei diesen Gesegneten lerne, geduldig zu sein und Böses durch Gutes zu überwinden. Das ist dann beispielhaftes Leiden, das anderen großen Eindruck macht und dadurch hilfreich ist, weil es ihnen vor Augen führt, was Glaube ist, Treue, Demut und Ergebung.


Ich weiß nicht, wie es ihnen damit geht. Aber mich beeindruckt die Vielzahl dieser Leidensarten, weil sie zeigt, dass Leid nicht gleich Leid ist, dass man nicht alles über einen Kamm scheren darf und dass Leid auch keineswegs für grundlos, sinnlos oder nutzlos gehalten werden muss. Ganz im Gegenteil! Gott, wenn er Schmerz zufügt, kann dabei mancherlei im Schilde führen. Das Leid kann mir selber nützen oder einem anderen. Es kann zum Vorbild dienen oder auch zur Abschreckung. Es kann nötig sein, um mir gewisse Fehler auszutreiben, oder um andere zur Barmherzigkeit herauszufordern. Es kann Prüfung sein für mich oder öffentliches Zeichen für die anderen. Es kann der Fluch der bösen Tat sein, der mich gerechter Weise einholt. Es kann aber auch Gottes herzliche Umarmung sein, die mich am Weglaufen hindert. Oder es liegt darin sogar die Ehre, mit Christus gemeinsam das Kreuz zu tragen. Wahrscheinlich gibt es noch viel mehr Möglichkeiten! Wenn sie mich nun aber fragen, ob ich ein konkretes Leid immer einer Gruppe zuordnen könnte und immer wüsste, was es bedeutet, so sage ich ganz offen „nein“. Denn was Gott im Schilde führt, wenn er einen Menschen leiden lässt, das verrät er uns nicht immer. Und wir sollten uns hüten, es den Freunden Hiobs gleich zu tun und einem Leidenden naseweis eine bestimmte Erklärung seines Leidens aufzudrängen. Nein: Grund und Ziel des Leidens bei Gott zu erfragen, muss immer die Aufgabe des Betroffenen bleiben. Dass Leid aber mancherlei Sinn und Ziel haben kann, dass verborgene Notwendigkeit darin liegen kann, und sogar großer Segen für mich oder andere, das sollten wir allemal im Kopf behalten und nicht vergessen. Denn wenn Gott uns bittere Pillen verabreicht, dann denkt er sich etwas dabei. Wir wissen nicht unbedingt was, aber Gott tut nichts von ungefähr. Und diese positive Unterstellung, die wir als Christen machen dürfen, weil wir ihn kennen, die befreit uns zu einem produktiven Umgang mit unserem Schmerz und hilft ihn anzunehmen. Um es in ein Bild zu bringen: Als Christen dürfen wir unser Leiden behandeln, wie die Austernmuschel das eindringende Sandkorn behandelt. Das Sandkorn, das in die Muschel gerät, ist mit seinen scharfen Kanten natürlich ein Störfaktor – es ist hinderlich, schmerzlich und für den ganzen Organismus gefährlich. Aber was tut die Muschel? Ärgert sie sich daran zu Tode und erliegt? Nein! Sie kann das Sandkorn nicht loswerden, wie auch wir unser Leid nicht loswerden. Sie kann das Korn nicht einfach ignorieren, wie auch wir unser Leid nicht ignorieren können. Aber die Muschel kann das Sandkorn annehmen, kann es nach und nach mit Schichten aus Perlmutt überziehen, kann seine scharfen Kanten damit abrunden, es umbilden und umgestalten, das Sandkorn auf diese Weise unschädlich machen und den Fremdkörper in den eigenen Organismus integrieren. Am Ende ist aus dem Sandkorn eine wunderbar schimmernde Perle geworden – und die Muschel ist wertvoller, als sie ohne die Störung jemals hätte sein können. Mein Vorschlag ist nun, dass wir es mit unseren Schmerzen genauso machen. Dass wir sie nämlich nicht verleugnen und erst recht nicht daran zugrunde gehen, sondern sie im Glauben bewältigen und umformen. Wir dürfen ihnen Sinn und Ziel unterstellen, so wie wir es bei Heinrich Seuse gesehen haben. Nichts wird uns von Gott ohne Grund zugemutet! Indem wir das aber unterstellen, umhüllen wir das Sandkorn mit Perlmutt, integrieren das Leid in unseren Glauben, nehmen ihm damit die schärfsten Kanten und wenden zum Guten, was zunächst nur böse schien. Wenn dann aber mit Gottes Hilfe aus dem Störfall des Leidens eine Perle des Glaubens geworden ist, dann hat Gott erfolgreich an uns gearbeitet und hat den Fluch zum Segen gewendet, so dass wir unterschreiben können, was Heinrich Seuse abschließend zu jener Ordensschwester sagte: „Dies alles sollst du berücksichtigen und (darum) nicht ungern leiden, denn woher Leiden auch immer kommt, es kann dem Menschen von Nutzen sein, wenn er das Leid von Gott anzunehmen, es wieder in Gott zu tragen und mit seiner Hilfe zu überwinden versteht.“