Wie man vor einem Spiegel stehend entweder auf den Spiegel selbst, oder auf das in ihm erscheinende Spiegelbild der eigenen Person schauen kann, so kann man beim Lesen der Bibel seine Aufmerksamkeit auf das Buch als solches richten, oder auf das, was man im Spiegel der Bibel über sich selbst und Gott erfährt. Beides ist erlaubt, das Zweite aber wichtiger. Denn Gott gab uns die Bibel nicht, damit wir ihre Entstehung studieren und damit den Rahmen des Spiegels von hinten betrachten, sondern damit wir vorne reinschauen und uns selbst erkennen!
(in Anlehnung an einen Text von S. Kierkegaard)
Viele Jahrhunderte lang war eine Bibel eine Kostbarkeit, und sie zu besitzen, war ein Privileg für wenige. Wer eine Bibel in die Hand bekam, musste Latein können, um darin zu lesen. Und zeitweise war das gewöhnlichen Christen sogar verboten. Risiken und Mühen musste man auf sich nehmen, um Gottes Wort kennen zu lernen. Und doch war es vielen den Aufwand wert. Heute hat sich die Situation ins Gegenteil verkehrt. Man bekommt eine Bibel für 10,- Euro auf dem Wühltisch beim Discounter und zum Nulltarif im Internet. Gottes Wort wird einem beinahe nachgeworfen! Jeder kann es sich leisten. Jeder ist des Lesens mächtig. Und jeder hätte Zeit, wenn er sich fürs Bibellesen die Zeit nehmen wollte. Doch seltsam: Nun, da es so leicht ist, hat das Bibellesen keine Konjunktur, und die Kenntnis dessen, was wirklich drinsteht, wird immer geringer. Was mag der Grund sein? Ist es nur Übersättigung, Desinteresse und Gleichgültigkeit? Ich denke es liegt auch an der verbreiteten Meinung, das Lesen in der Bibel erfordere spezielle Kenntnisse, und ihre Auslegung sei eine Wissenschaft für sich. Der Laie sieht, dass die Theologen über vieles nicht einig werden. Die machen großes Gewese um ihre Kunst der Interpretation und ihre historischen Kenntnisse. Und also muss es doch schwierig sein! Wenn die Gelehrten aber auch noch versichern, man dürfe das Bibelwort nicht einfach nehmen wie’s dasteht – das sei naiv, unkritisch und falsch – dann will man sich als „Laie“ nicht blamieren und lässt die Finger davon. Doch richtig ist das nicht! Man darf den Theologen nicht blind vertrauen! Ein Christ soll selbst Zugang haben zu den Grundlagen seines Glaubens! Und dieser Zugang muss keineswegs wissenschaftlicher Art sein. Denn das ist nur eine der Weisen, wie man sich der Bibel nähern kann. Und es ist nicht die für den Glauben entscheidende.
Doch welchen Weisen des Bibel-Lesens gibt‘s überhaupt – und wodurch unter-scheiden sie sich? Sie werden das sofort verstehen, wenn wir dem Vorschlag Sören Kierkegaards folgen und die Bibel mit einem Spiegel vergleichen. Denn wenn man vor dem Spiegel steht, hat man ja immer zwei Möglichkeiten diesen Spiegel zu betrachten. Ich kann mir entweder den Spiegel als solchen ansehen, nämlich Glas und Rahmen, Bauart und Aufhängung, den Schliff und die Form, Verschmutzungen, Kratzer und Sprünge. Oder ich kann mich vor den Spiegel stellen und nicht ihn als Gegenstand, sondern mich selbst im Spiegel ansehen. Ob nämlich meine Haare richtig liegen, ob ich Ringe unter den Augen habe, ob das Hemd zur Jacke passt, und die Krawatte zum Rest. Sehen wir einen anderen Menschen vor dem Spiegel stehen, können wir nicht wissen, ob er sich gerade für den Spiegel interessiert und folglich den Spiegel betrachtet, oder ob er (diesen Gegenstand vergessend) mit dem eigenen Zustand beschäftigt ist und im Spiegel sich selbst betrachtet. Es sind aber jedem jederzeit diese beiden Möglichkeiten gegeben, weil wir entweder auf den nützlichen Gegenstand starren, der da an der Wand hängt, oder unser eigenes Bild prüfen, das im Spiegel erscheint. Es kommt nur darauf an, wohin man seine Aufmerksamkeit lenkt! Und genau so ist es auch, wenn man in der Bibel liest! Denn entweder untersucht man die Bibel selbst als Buch – dann ordnet man sie nach Sprache, Form und Gliederung in die antike Literatur ein und weiß hinterher etwas über ihre Entstehungsgeschichte. Oder man bemüht sich, im Spiegel der Bibel zu erkennen, wie man selbst als Mensch vor Gott dasteht – und dann erfährt man weniger über die Bibel als Buch, erfährt mit ihrer Hilfe aber ganz viel über Gottes Beziehung zu mir, und meine Beziehung zu ihm. Wie beim Spiegel sind auch bei der Bibel beide Weisen der Betrachtung möglich und erlaubt. Aber sie unterscheiden sich doch sehr. Denn einmal steht der Spiegel selbst im Fokus der Aufmerksamkeit. Und einmal das, was ich mit seiner Hilfe erfahre. Einmal schaut man auf den Einrichtungsgegenstand, der zum Inventar der Wohnung gehört. Und das andere Mal konzentriert man sich auf das eigene Spiegelbild und den eigenen Zustand. Mal studiert man die Bibel, um etwas über ihre Geschichte und ihre Autoren zu erfahren. Und mal studiert man die Bibel, um sich selbst und Gott zu verstehen. Der erste Zugang ist wissenschaftlich, weil die historischen Zusammenhänge unabhängig von mir als Betrachter einfach gegeben sind. Der zweite Zugang aber ist notwendig persönlicher Art, weil es um den Betrachter selbst und seine Gottesbeziehung geht.
So verschieden die Herangehensweisen auch sind, schließen sie sich doch nicht aus. Man kann beides nacheinander oder abwechselnd tun. Dass aber die wissen-schaftlich-historische Betrachtung der Bibel die allein richtige oder maßgebliche sei, möchte ich ausdrücklich bestreiten. Denn für unseren Glauben ist diejenige Bibellektüre entscheidend, die uns auf persönliche Weise die Augen öffnet über Gott und uns selbst. Und nur weil sie uns diesen unschätzbaren Dienst leistet, ehren wir die Schrift so sehr! Oder wird ein Spiegel etwa aufgehängt, damit die Bewohner des Hauses sich stundenlang mit seiner Form beschäftigen, die halbrund, rund, oval oder eckig ist? Wird ein Spiegel nicht angeschafft, damit die Bewohner des Hauses Gelegenheit haben, darin ihr Spiegelbild zu betrachten? So ist uns auch die Bibel nicht in die Hand gegeben, damit wir über ihre Entstehungsgeschichte grübeln, die Qualität des Papieres begutachten, die verwendete Tinte analysieren und die Buchstaben zählen, sondern damit sie ihre Funktion erfüllt! Gott gab uns die Heilige Schrift, damit wir aus ihr Lebenswichtiges über ihn und uns selbst erfahren! Darum brauchen wir die Bibel nicht vorrangig als Forschungsgegenstand, an dem wir unsere Gelehrsamkeit erproben, sondern als praktische Anleitung, um mit Gott ins Reine zu kommen! Wir lesen dieses Buch nicht wegen der Menschen, die daran geschrieben haben, sondern weil Gottes Geist sich noch heute ihrer Worte bedient, um uns in Menschenworten Gottes Herz aufzuschließen! Und das kann schwerlich geschehen, wenn wir uns auf distanzierte Weise mit der Rückseite des Spiegels, seinem Gewicht und seinem Alter beschäftigen, statt vorn hineinzuschauen.
Universitäre Theologie geht diesen unpersönlichen Weg. Sie blendet das Subjekt aus, um möglichst objektiv zu sein. Sie fragt nicht, was Gott uns heute durch das Evangelium sagen will, sondern nur, was der Evangelist Markus damals seinen Zeitgenossen sagen wollte. Als Absender der Botschaft kommt nicht Gott in Betracht, sondern allein der biblische Autor, der den Text verfasst hat. Die Adressaten, die angeredet werden, sind nicht wir heutigen Leser, sondern die Menschen, an die der Evangelist damals dachte. Und weil der biblische Schriftverkehr samt Absendern und Adressaten einer fernen Vergangenheit angehört, verbleiben auch alle Einsichten, die man gewinnt, in historischem Abstand. Solche Wissenschaft schaut nur auf den Spiegel, sie schaut nicht hinein. Und wie gesagt, ist das nicht falsch. Nur, wenn man dabei stehen bleibt, wird es keinen Glauben wecken und niemanden erbauen. In der historisch-kritischen Betrachtung der Bibel kommt Gott als Redender ebensowenig vor, wie der heutige Leser als Hörender. Doch der Glaube der Kirche lebt davon, dass sich Christen ganz aktuell durch Gottes Wort anreden lassen. Die Christenheit pflegt und hütet diesen Spiegel nicht, weil er einen schönen antiken Rahmen hat, sondern weil man vorne reinschauen und dabei sich selbst erkennen kann! Ohne diesen Spiegel verstünden wir weder Gott noch uns selbst! Und die rechte Weise Bibel zu lesen ist darum nicht, das Buch wie ein Museumsstück von ehrwürdigem Alter zu bestaunen, sondern seine Botschaft so persönlich zu nehmen, wie sie gemeint ist!
Kierkegaard spricht das deutlich aus und sagt: Willst du mit Gewinn die Bibel lesen, so ist (1.) erforderlich, dass du nicht den Spiegel ansiehst, sondern dich selbst im Spiegel siehst. Und (2.) ist erforderlich, dass du beim Lesen in einem fort dir selber sagst „Ich bin es, zu dem hier geredet wird, ich bin es, von dem hier geredet wird.“ Wenn man liest, wie ein Prophet den König David seiner Schuld überführt, soll man denken: „Da wird von mir geredet, denn so ein krummer Hund wie der König David bin ich ja auch!“ Wenn man liest, wie ein Mensch auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber fiel, halb tot da lag, und ein Priester ging vorüber ohne zu helfen, soll man denken: „Da wird schon wieder von mir geredet, denn genau so ungerührt bin auch ich am Leiden manches Mitmenschen vorübergegangen!“ Wenn vom Samariter erzählt wird, der barmherzig war und den Verletzen versorgte, und Jesus schließt das Gleichnis mit dem Satz „Gehe hin und tue desgleichen“ soll man sagen: „Das ist zu mir geredet, ich bin gemeint und soll dieser Aufforderung folgen.“ Liest man, dass Nikodemus zu feige war, um Jesus bei Tage zu besuchen, und darum unerkannt in der Nacht zu ihm kam, soll man sagen: „Ja, darin erkenne ich mich wieder, denn so ängstlich bin ich auch, dass ich mich nicht offen genug zu meinem Glauben bekenne.“ Wenn man dann aber liest, dass sich Jesus der Mühseligen und Beladenen erbarmen will, soll man wiederum den Mut haben, sich gemeint zu wissen und innerlich „ja“ zu rufen, weil wir uns in den Beladenen wiedererkennen und die Verheißung Jesu auf uns beziehen dürfen. Ja die biblische Geschichte handelt nicht von irgendwelchen anderen Leuten, die längst tot sind, sondern von uns. Wie ein gut polierter Spiegel sagt uns die Bibel die Wahrheit über uns selbst und eröffnet uns, wie wir vor Gott dastehen. Wenn wir es aber vermeiden, in diesen Spiegel hinein zu blicken, und uns stattdessen bloß für seinen Herstellungsprozess interessieren, für die Rückseite und die Kratzer im Glas – liegt der Verdacht dann nicht nahe, dass wir uns um die Hauptsache drücken? Könnte es sein, dass wir Gottes Wort einfach nicht hören wollen, und darum so tun, als habe Gott missverständlich geredet? Kierkegaard nimmt genau das an und kleidet seinen Verdacht in folgende Geschichte:
Stellen sie sich ein Land vor, dessen König ein Gebot erlässt und den Wortlaut seines Gebotes im ganzen Reich bekannt macht. Alle Beamten und Untertanen und die ganzen Bevölkerung kann es in öffentlichen Aushängen lesen. Doch was geschieht? Die Wirkung ist nicht die erwartete! Denn mit den Menschen geht eine seltsame Veränderung vor. Alle verwandeln sich in Ausleger, Gutachter und Kommentatoren! Die Beamten werden zu Schriftstellern und fangen an, des Königs Gebot scharfsinnig zu interpretieren. Alle Tage kommt eine neue Auslegung heraus – die eine gelehrter, geschmackvoller, tiefsinniger und geistreicher als die andere! Man kann kaum noch die Übersicht bewahren, weil zur Deutung des Gebotes so viel Kluges geschrieben wird. Und weil der Streit über die rechte Interpretation gar kein Ende findet, kommt vorläufig keiner dazu, das Gebot umzusetzen. Man liest es unentwegt, analysiert und diskutiert, aber keiner liest es so, dass er danach täte! Vielmehr: Nachdem alles zur Auslegung geworden ist, setzt sich die Überzeugung durch, der König habe sein Gebot überhaupt zu dem Zweck erlassen, dass es ausgelegt würde, und je raffinierter man das Gebot deuten und kommentieren könne, desto näher sei man auch seinem königlichen Willen…
Was wird aber der König darüber denken? Wird er nicht merken, dass seine Untertanen ihn auf diese Weise zum Besten halten und sich bloß davor drücken, sein Gebot zu befolgen? Wird er sich durch die Auslegungskunst seiner Beamten nicht verschaukelt fühlen? Der König wird wohl denken: Wenn sie zu schwach wären meinem Gebote nachzukommen, das könnte ich evtl. verzeihen. Wenn sie zugäben, dass es ihnen zu schwer ist, könnte ich‘s erleichtern. Wenn sie um Aufschub bäten, könnte ich Aufschub gewähren! Aber dass sie mein Wort gar nicht ernst nehmen und so tun, als käme es mir auf ihre Auslegungskunst und nicht auf ihren Gehorsam an, dass sie mich damit zum Besten halten, das will ich nicht verzeihen…
Das kleine Gleichnis spricht für sich. Man wundert sich vielleicht über die Bürger jenes Landes. Aber die Art, wie Menschen sich heute mit der Bibel beschäftigen, ist gar nicht weit davon entfernt! Da ist ein Gesetz des großen Königs, das man deutlich genug verstehen kann! Weil man aber nicht gehorchen möchte, verlegt man sich ganz auf das Auslegen der Bibel, betrachtet sie historisch, literarisch, linguistisch, soziologisch und sonstwie von allen Seiten! Das sieht unheimlich klug und engagiert aus, als hätte man großen Eifer, den Geheimnissen des Buches auf den Grund zu kommen! Man verkündet auch, all das Forschen würde uns dem Wort Gottes ganz nahe bringen! Die Wahrheit aber ist, dass wir auf diese listigste Weise Gottes Wort ganz weit von uns entfernen, um uns bloß nicht gemeint zu wissen. Es ist ein Versteckspiel mit Gott, bei dem man so tut, als habe man sein Wort leider noch nicht ausreichend verstanden, um ihm folgen zu können! Bis zum Abschluss der Untersuchungen bleibt alles in der Schwebe – und dieser Abschluss kommt natürlich nie!
Doch wie ein irdischer König, wird auch Gott das nicht lustig finden und wird sich auf die Dauer nicht täuschen lassen. Wenn wir zu schwach wären, um seinem Gebot nachzukommen, könnte er das verzeihen. Wenn seine Weisung zu schwer wäre, könnte er sie erleichtern. Und wenn wir um Aufschub bäten, würde er mit sich reden lassen. Aber dass man ihn zum Besten hält, das will er nicht verzeihen. Denn Gott hat sich in der Bibel deutlich genug ausgedrückt, hat weder gelallt noch gestottert, sondern klar geredet. Er will nicht, dass wir den Spiegel von hinten betrachten, sondern dass wir vorne hineinsehen. Darum, wenn ihre Bibel irgendwo ganz oben im Regal auf einem Ehrenplatz steht, wo der Staub sich sammelt, dann holen sie sie bitte dort herunter und legen sie dorthin, wo sie ihnen täglich ins Auge fällt und sie täglich danach greifen können – damit Gottes Wort kein toter Besitz sei, sondern uns täglich den Dienst leiste, den wir so bitter nötig haben.