Luther sagt: „Es ist nicht Demut, wenn einer leugnet, die Gaben zu haben, die Gott ihm gegeben hat.“ Demut ist darum keine alberne Selbstverachtung, die an der eigenen Person schlecht macht, was gut ist, sondern sie besteht darin, die eigenen Begabungen und Leistungen weder größer noch kleiner erscheinen zu lassen als sie sind, sie aber nicht sich selbst zuzuschreiben und zugutezuhalten, sondern allein dem Schöpfer, der sie gegeben und ermöglicht hat. Was hast du, das du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich? 

Demut

Was soll daran gut sein?


Die Demut ist das Aschenputtel unter den Tugenden. Denn der Respekt, der anderen Tugenden gezollt wird, bleibt ihr gewöhnlich versagt. Barmherzigkeit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit werden allgemeine anerkannt. Sie gelten als erstrebenswert. Aber Demut? Was soll das überhaupt sein? Kaum jemand kann mit diesem Begriff etwas Positives verbinden. Denn allzu schnell wird „Demut“ mit „Demütigung“ in Zusammenhang gebracht: Wenn ein Mensch den anderen „demütig“, dann würdigt er ihn herab, verletzt seine Ehre, macht ihn verächtlich, bestreitet seinen Wert und erniedrigt ihn. Daran ist wahrlich nichts Positives. Und wenn Demut darin bestünde, sich das selbst anzutun – sich also selbst zu demütigen – dann müsste man sie eher zu den Geisteskrankheiten rechnen als zu den Tugenden. „Warum soll ich mich selbst demütigen?“ fragt der Mensch „das tun doch schon die anderen!“ So ist die Demut zum Aschenputtel unter den Tugenden geworden. Und wer trotzdem der Frage nachgehen will, was „Demut“ meint, beginnt am besten mit einem weniger belasteten Begriff, wie z.B. dem der „Bescheidenheit“: Wenn ein Mensch sich mit seinen Leistungen nicht in den Vordergrund drängt, nicht auf Lob aus ist, nicht prahlt und sich nicht aufbläst, dann nennt man ihn „bescheiden“. Denn er verzichtet auf Hochmut, Eitelkeit, Arroganz und Angeberei. Der Bescheidene nimmt sich selbst zurück. Er lässt die anderen gern im Mittelpunkt stehen, lässt ihnen Raum und freut sich an der Anerkennung, die sie finden, ohne sie ihnen zu neiden. Es ist sehr angenehm, mit solchen Leuten zu tun zu haben. Doch wer ihre Zurückhaltung zur Nachahmung empfiehlt und anderen Menschen eine bescheidene Haltung nahelegt, der erntet nicht nur Zustimmung. Denn das bescheidene Auftreten, das uns bei anderen gefällt, erscheint uns nicht ebenso passend – für uns selbst. Etwas in uns sperrt sich, wenn man uns „Demut“ abverlangt. Denn warum soll der Mensch auf erbrachte Leistungen nicht stolz sein dürfen? Wenn einer Begabungen hat, warum soll er dann so tun, als hätte er sie nicht? Warum soll der Tüchtige sich selbst verkleinern und an sich selbst verächtlich machen, was doch nicht verachtenswert ist? Wenn ein Lump sich als Edelmann ausgibt ist das Heuchelei. Aber wenn ein Edelmann sich als Lump ausgibt – ist das dann nicht auch Heuchelei? Wär’s demnach nicht besser, wenn ein jeder sich so gäbe, wie es seinen tatsächlichen Leistungen und seinem Rang entspricht? Ein Taugenichts und Lump, der nichts ist und nichts kann, der soll bescheiden auftreten – denn er hat Grund dazu. Der Tüchtige dagegen, soll die Früchte seines Fleißes durchaus zeigen, denn er hat die Anerkennung, die ihm zuteil wird, tatsächlich verdient. „Ehre, wem Ehre gebührt“ – so könnte man diese Haltung zusammenfassen, die nicht nur gerecht, sondern auch vernünftig erscheint. Denn wenn die Klugen und die Tüchtigen sich aus lauter Bescheidenheit immer vornehm zurückhielten, wer würde dann in unserer Gesellschaft den Ton angeben? So kann, wer das zuende denkt, zu dem Ergebnis kommen, die Tugend der „Demut“ eigne sich vor allem für die Menschen, die ohnehin nichts haben, worauf sie stolz sein könnte. Aber kann man das dann noch eine „Tugend“ nennen? Schwerlich. Und daran wird sichtbar, dass der skizzierte Gedankengang auf einem Missverständnis der traditionellen Tugendlehre beruht. Denn weder ist Demut der krankhafte Versuch, sich selbst herabzuwürdigen. Noch ist sie eine vornehme Heuchelei. „Es ist nicht Demut, wenn einer leugnet, die Gaben zu haben, die Gott ihm gegeben hat“, sagt Martin Luther. Was aber ist Demut dann? Ich meine, wahre Demut besteht darin, die eigenen Begabungen und Leistungen weder größer noch kleiner erscheinen zu lassen als sie sind, sich dabei aber diese Begabungen und Leistungen nicht selbst zuzuschreiben und zugute zu halten, sondern sie dem zugute zu halten, der sie gegeben und ermöglicht hat. „Ich bin nur ein kleines Kabel“, sagte Mutter Teresa einmal „Gott ist der Strom.“ Und genau in dieser Unterscheidung, in dieser realistischen Selbsteinschätzung, liegt meines Erachtens das Wesen echter Demut. Sie verleugnet nicht das Können und die Kraft der eigenen Person, bildet sich aber auch nichts darauf ein, weil sie im Anblick ihrer Fähigkeiten und Güter stets an die Frage des Paulus denkt: „Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dann…?“ (1.Kor 4,7). Wer diese Frage immer im Hinterkopf hat, betrachtet alle seine Fähigkeiten und Erfolge als Gaben Gottes – und lässt dementsprechend den Ruhm und den Dank dafür auf Gottes Konto gehen. Das hindert ihn keineswegs, sich an seinen Fähigkeiten und Erfolgen zu freuen. Aber es schließt den Dünkel und den Stolz aus, der sich zwangsläufig einstellen müsste, wenn der Mensch sich irgendein Gut selbst zuschreiben und zugute halten wollte. Der Demütige sieht sich als Werk des Schöpfers und reicht alles verdiente Lob unmittelbar an ihn weiter, weil er sonst das Gefühl hätte, sich mit fremden Federn zu schmücken. Oder stimmt es nicht? Für ein schönes Bild verdient nicht die Leinwand Lob, sondern der Maler! Für schöne Musik verdienen nicht die Töne Lob, sondern der Komponist! Für einen schönen Krug verdient nicht der Ton Lob, sondern der Töpfer! Weil der Christ sich aber in genau demselben Sinne von seinem Schöpfer unterschieden weiß – darum kann er „demütig“ sein. Er findet in sich selbst nichts Gutes, abgesehen von dem, was Gott in ihn hineingelegt hat. Und wenn er für dieses „Hineinlegen“ auch dankbar ist, so wird er sich des Guten doch nicht in der Weise rühmen, als hätte er’s selbst hervorgebracht. Nicht dem Beschenkten, sondern dem Schenkenden – Gott allein! – gebührt die Ehre. Und wer ihm diese Ehre lässt, der mag dann von den eigenen Leistungen viel oder wenig halten, er mag auch umjubelt werden, er bleibt doch demütig, weil er sich Leistungen und Erfolge nicht selbst zugute hält. Gelingt ihm Gutes, so ist es das Gute, das Gott durch ihn tut. Spricht er Wahrheit, so ist es die Wahrheit, die Gott durch ihn redet. Ist er anderen ein Segen, so ist es der Segen, den Gott durch ihn wirkt. In alledem ist der Mensch nur das Kabel – Gott ist der Strom. Und weil das Kabel ohne den Strom zu nichts nütze wäre, darum bleibt der Mensch, der sich als Kabel zu sehen gelernt hat, demütig im allerbesten Sinne. Das hat dann rein gar nichts zu tun mit einer albernen Selbstverachtung. Und es bedeutet auch nicht, dass man an der eigenen Person schlecht machen müsste, was gut ist. Ein demütiger Mensch kann sehr selbstbewusst sein! Doch unvereinbar ist Demut mit dem törichten Stolz derer, die meinen, sie seien ihres Glückes Schmied gewesen. Denn ein Mensch kann sein gott – loses Denken kaum deutlicher verraten, als wenn er sagt: „Ich habe mich selbst zu dem gemacht, was ich heute bin.“ Wer so redet, vergisst den, der ihm das Leben geschenkt hat – und raubt Gott die ihm gebührende Ehre. Die Momente der Bewahrung und des Erfolges in seiner Biografie reklamiert er für sich selbst. Er bemächtigt sich der ihm anvertrauten Gaben und gibt sie als sein Eigentum aus. Er hält sich zugute, was er ohne Gott nicht gekonnt hätte. Und er nimmt für sich in Anspruch, was ihm nicht gehört. Doch ist es ein Verdienst des Geschöpfes, wenn es hat, was der Schöpfer ihm gab? Ist denn einer mehr als was Gott ihm zu sein erlaubt? Was hast du, Mensch, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich dann? Was rühmenswert ist an unserem Leben, das geht samt und sonders auf Gottes Konto. Darum: Wenn einer von Gott große Kraft geschenkt bekommt und damit Gutes tut, wenn einer eine schöne Stimme bekommt und damit Loblieder singt, oder wenn einer Verstand bekommt und damit die Unverständigen lehrt – dann ist das alles nicht mehr als dieser Menschen Pflicht und Schuldigkeit. Denn es bedeutet nicht mehr, als dass sie mit den Pfunden wuchern, die sie bekamen, um damit zu wuchern (vgl. Lk 19,11ff.). Keiner sollte meinen, Gott müsse ihm dafür dankbar sein! Vielmehr gilt das Umgekehrte: Wir sollten dankbar sein, wenn Gott das Gute – das er auch ohne uns tun könnte! – durch uns tun will. Denn ein Kabel für Gottes Strom zu sein – das gehört zu dem Höchsten, was einem Menschen geschenkt werden kann. Wem solche Ehre aber zuteil wird, der rühme deswegen nicht sich, sondern rühme Gott – und übe sich im Blick auf die eigene Person in Demut:


„Aus sich nichts machen und andere gern für besser und höher achten, als man selber sein mag – das ist große Weisheit und Vollkommenheit. Und sähst du einen andern öffentlich sündigen oder einen schweren Fall tun: So halte dich deshalb nicht für besser als ihn. Denn sieh: Du weißt ja nicht, wie lange du selbst noch im Guten feststehen wirst. Gebrechlich sind wir alle, aber gebrechlicher als du sei in deinen Augen keiner.“

(Thomas von Kempen, +1471)