Weil Gott den menschlichen Horizont überschreitet, wissen wir von ihm nur, was er uns hat wissen lassen in seiner Offenbarung. Sie geschah, als Gott in den menschlichen Gesichtskreis trat und Mensch wurde. Darum ist Jesus Christus Grund und Grenze aller christlichen Rede von Gott: Wir dürfen nicht mehr von Gott sagen, als wir am Leben, Sterben und Auferstehen seines Sohnes ablesen können – aber auch nicht weniger.
Wie ist Gotteserkenntnis möglich?
Es gibt nichts Peinlicheres, als wenn jemand über Dinge redet, von denen er nichts versteht. Und doch erleben wir das ziemlich oft. Da führt jemand kluge Reden über Kindererziehung und hinterher stellt sich heraus, dass er selbst gar keine Kinder hat. Da lässt sich jemand über die Probleme der Landwirtschaft aus, und man erfährt, dass er nie einen Stall von innen gesehen hat. Da schwärmt einer von der Schönheit fremder Länder, und wenn man genauer nachfragt, dann ist er selbst noch gar nicht dort gewesen. Lächerlich und peinlich ist so etwas, wenn einer mit Erkenntnissen prahlt, die er mangels eigener Erfahrung gar nicht haben kann. Und was noch schlimmer sein dürfte: Wer in dieser Weise den Mund zu voll nimmt, der verliert seine Glaubwürdigkeit. Weil Glaubwürdigkeit aber ein hohes Gut ist, darum will ich der Frage nachgehen, wie glaubwürdig wir eigentlich als Christen sind, wenn wir von Gott sprechen. Es ist schließlich nicht wenig, was wir über ihn zu sagen haben. Wir sprechen von Gottes Macht und Wille, von seinem Zorn und seiner Gnade, von seiner Vorsehung und sogar vom Verhältnis des Vaters zum Sohn und zum Heiligen Geist. Da ist es durchaus verständlich, dass Außenstehende kritisch nach dem Grund dieser Erkenntnisse fragen. „Woher wisst ihr das denn alles?“ fragen sie. „Seid ihr Christen denn schon im Himmel gewesen, dass ihr so genau wisst, wie es da zugeht? Nein? Und woher wisst ihr dann, dass Gott nicht vielleicht ganz anders ist als ihr denkt? Nehmt ihr den Mund nicht zu voll, wenn ihr behauptet, Gott zu kennen, den ihr genauso wenig sehen könnt wie alle anderen auch?“ Ich denke, wir müssen diesen Einwand ernst nehmen. Und ich will darum eine Geschichte aus einem Kinderbuch erzählen, die die Tragweite dieses Problems noch deutlicher machen kann. Es geht in der Geschichte um die Grenzen der Erkenntnis. Und ich will sie erzählen, weil sie ein Gleichnis unserer eigenen, menschlichen Situation ist: In einem Teich lebten einmal ein Frosch und ein Fisch. Die waren gemeinsam aufgewachsen und verstanden sich so gut als wären sie Geschwister. Jedoch, so groß die Freundschaft auch war: Frosch und Fisch konnten doch nicht alle Erfahrungen miteinander teilen. Denn – das versteht sich – wenn der Frosch an Land hüpfte und auf den Wiesen am Teich Mücken jagte, dann konnte der Fisch ihm nicht folgen. Der Fisch musste unten im Teich warten, bis sein Freund zurückkehrte und ihm von der fremden Welt da oben erzählte. Der Fisch war ausgesprochen neugierig. Und darum ließ er den Frosch ausführlich berichten über die Kühe auf der Wiese, über die Vögel und über die Menschen. Der Frosch gab auch bereitwillig Auskunft über alles, was er gesehen hatte: „Die Vögel haben Flügel und spitze Schnäbel“, sagte er, „die Kühe sind gescheckt und haben rosa Säcke mit Milch. Und die Menschen tragen Kleider und Hüte!“ Der Fisch gab sich große Mühe, sich all diese wundersamen Wesen vorzustellen, von denen der Frosch erzählte. Doch die Bilder, die in seiner Phantasie vor ihm aufstiegen, hatten wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Stellte er sich Vögel vor, so sahen sie aus wie Fische – nur eben mit Flügeln und Schnäbeln. Stellte er sich Kühe vor, so sahen sie auch wie Fische aus – nur eben gescheckt und mit Eutern. Und das Bild, das er sich vom Menschen machte – na, das war eben ein Fisch mit Hut auf dem Kopf. Ganz unzutreffende Bilder waren das. Aber wie hätten sie auch zutreffend sein können? Der Fisch kannte eben vorwiegend Fische, und auch was er nicht kannte, stellte er sich zwangsläufig fischförmig vor. Er konnte sich vielleicht die Flossen wegdenken und das vorgestellte Bild durch Beine ergänzen. Er lauschte ja aufmerksam den Schilderungen des Frosches. Aber er blieb doch gefangen in seiner fischförmigen Bildwelt. Unser armer Fisch war sehr verzweifelt darüber. Er sehnte sich danach, mit eigenen Augen wirkliche Vögel, Kühe und Menschen zu sehen. Und als der Wissensdurst ganz groß war, da sprang er einmal aus dem Wasser heraus ans Ufer, um den Streifzügen des Frosches zu folgen. Er wäre natürlich fast umgekommen dabei. Sein Freund der Frosch musste ihn schnell wieder vom Ufer in den Teich zurückschubsen. Als aber wieder das klare, kühle Wasser durch seine Kiemen strömte, da sah der Fisch es dann endlich ein, dass sein Horizont auf den Teich beschränkt bleiben würde. „Frosch ist Frosch“, sagte er. „Und Fisch bleibt Fisch.“ Nun, das Bilderbuch von Leo Lionni endet an dieser Stelle, wo der Fisch, der vergeblich gegen die Grenzen seiner Erkenntnis rebellierte, diese Grenzen schließlich akzeptiert. Er hat am Ende gelernt, sich zu bescheiden. Wie aber steht es mit uns? Sind wir Menschen, wenn wir Gott zu erkennen versuchen, nicht in ähnlich schlechter Lage? Sind wir nicht auch wie dieser Fisch, der sich alles, was er nicht kannte, fischförmig vorstellte? Neigen wir Menschen nicht dazu, uns Gott allzu menschlich und darum falsch vorzustellen? Zugegeben: Unser Horizont ist weiter als ein Teich. Aber auch unser Horizont ist begrenzt. Unser Teich ist die Welt, in der wir uns auskennen. Und von dem, was in der Welt ist, können wir uns ein zutreffendes Bild machen – wir haben schließlich Augen im Kopf. Gott aber ist kein Bestandteil dieser Welt. Er ist so sehr jenseits unseres Horizontes wie Kühe jenseits vom Horizont eines Fisches sind. Und wie es einem Fisch nicht recht gelingt, über die Grenzen seines Teiches hinauszudenken, so haben wir Schwierigkeiten, über die Grenzen unserer Menschenwelt hinauszudenken. Denn so wenig ein Fisch an Land klettern kann, um die Kühe mit eigenen Augen zu sehen – so wenig können wir in den Himmel aufsteigen, um Gott zu schauen. Unsere Sinne und unser Erkenntnisvermögen taugen für diese Welt. Aber sie taugen nicht dazu, Gottes Wirklichkeit zu erforschen. Gott ist uns zu hoch. Haben also die Recht, die sagen, Gotteserkenntnis sei unmöglich? Müssen wir unsere Hoffnungen begraben, wie der Fisch in der Geschichte es musste? Nun, so aussichtslos ist es dann doch nicht. Denn wenn wir lange genug über jenen Teich nachdenken, finden wir ja eine Lösung für das Problem. Sie lautet ganz einfach: Wenn der Fisch nicht aus dem Teich heraus kann, so müssen eben die Landbewohner hinein. Es müsste ja nur einmal ein Mensch zum Baden in den Teich steigen oder eine Kuh müsste hineinfallen – dann hätte der Fisch die Chance, die Landbewohner mit eigenen Augen zu sehen. Die Sehnsucht des Fisches kann also durchaus erfüllt werden, ihm kann Erkenntnis geschenkt werden, seine Geschichte kann glücklich enden. Und wie steht es mit unserer Sehnsucht nach Gotteserkenntnis? Grob gesagt folgt die Lösung hier derselben Logik: Wenn wir nicht über die Welt hinauskönnen, um Gott zu begegnen, dann muss Gott in die Welt hinein. Wenn Gott will, dass wir ihn erkennen, dann muss er sich in die Reichweite unserer Sinne begeben, er muss sich den Grenzen unserer Auffassungsgabe anpassen. Und das ist tatsächlich die Lösung des Problems. Es ist nicht nur eine Möglichkeit, es ist Wirklichkeit. Denn Gott stieg in unseren Teich. Der Herr des Himmels setzte vor 2000 Jahren seinen Fuß auf die Erde. Gott wurde Mensch in Jesus Christus. Er kam uns auf Augenhöhe entgegen. Und für diesen freundlichen Schritt Gottes, für sein großes Entgegenkommen, gibt es auch einen Begriff: Den Begriff der „Offenbarung“. Überall, wo die Heilige Schrift sagt, dass „Gott sich in Jesus Christus offenbarte“, da will sie uns auf diesen wunderbaren Vorgang hinweisen. Gott ist tief in unsere Wirklichkeit hineingetaucht, damit uns blinden Fischen in unserem Teich die Augen aufgehen. Der Schöpfer wollte seinen Geschöpfen nicht fern und fremd bleiben. Sondern er wollte uns alles offenbaren, was wir zu unserer Seligkeit wissen müssen. Seinen Willen hat er offenbart und auch seinen Zorn, seine Geduld und seine Barmherzigkeit, seine Strenge, aber auch seine Liebe, mit der er uns nachgeht, um uns zu erlösen. All das ist offenbar, all das ist abzulesen an den Worten und Taten Jesu, an seinem Leben, Sterben und Auferstehen. Wenn wir also zu der eingangs aufgeworfenen Frage zurückkehren „Woher wisst ihr Christen denn, was ihr zu wissen behauptet?“, dann kann unsere Antwort nur im Begriff der Offenbarung liegen und im Verweis auf die Person Jesu Christi. Denn wir sind natürlich nicht in den Himmel hinaufgeflogen, um Gott in die Karten zu schauen. Wir verfügen nicht über einen siebten Sinn, durch den wir Gottes Geheimnisse ausspionieren könnten. Wir geben den Kritikern gerne zu, dass die Neugier und der Forscherdrang eines Christen an dieselben Grenzen stoßen, die alle anderen Menschen auch spüren. Aber wir wissen von Gott das, was er uns hat wissen lassen in seiner Offenbarung. Gäbe es sie nicht, so wäre es in der Tat besser, von ihm zu schweigen wie von einem großen, unerforschlichen Geheimnis. Da haben die Kritiker Recht: Wovon man nichts versteht, darüber soll man schweigen. Wenn aber Gott in Jesus Christus Mensch wurde und zu uns geredet hat – können wir dann so tun als hätten wir nichts gehört? Nein, nachdem uns in Gottes Offenbarung ein Licht aufgegangen ist, dürfen wir dieses Licht nicht unter den Scheffel stellen. Vielmehr sollen wir es aller Welt leuchten lassen, indem wir Gottes Wort ausbreiten. Indem wir das aber tun, müssen wir einige Grenzen beachten:
1. Wenn wir über Gott nachdenken und reden, dürfen wir nie vergessen, dass Gott immer das Subjekt seiner Offenbarung bleibt. Er wird niemals zum Objekt menschlichen „Enthüllens“, denn nicht wir „erforschen“ ihn, sondern er erschließt sich uns. Das Gefälle zwischen Gott und uns lässt gar nichts anderes zu. Und wer das weiß, wird sich Gott nie mit zudringlicher Neugier nähern.
2. Wenn wir nicht ungehörig von Gott daherschwatzen wollen, dürfen wir nicht „zu viel“ sagen. Nur das, was in der Offenbarung enthalten ist, kann Anspruch erheben, Gotteserkenntnis zu sein. Hüten wir uns also davor, etwas hinzuzudichten und eigene Gedanken als Gotteserkenntnis auszugeben, wenn wir sie nicht aus dem Neuen Testament belegen können.
3. Wie wir uns hüten müssen, etwas hinzuzufügen, so müssen wir uns auch hüten, etwas wegzulassen und dann „zu wenig“ zu sagen. Wir sollen nicht nur hören, was uns einleuchtet oder gefällt, sondern sollen alles zur Kenntnis nehmen, was Gott uns wissen lässt. Nicht nur freundliche, sondern auch strenge Worte. Nicht nur Tröstungen, sondern auch Mahnungen.
4. Obwohl Gott uns in sein Herz schauen lässt, ist Gottes Selbstoffenbarung nie zu verwechseln mit Selbstentblößung. Gott wird offenbar, aber nicht offensichtlich in der Welt. Er liegt nie vor uns wie ein aufgeschlagenes Buch. Vielmehr wahrt er auch in der Offenbarung sein Geheimnis – und kann erwarten, dass wir es respektieren.
5. Gott offenbart nicht irgend etwas (allgemeine Wahrheiten z.B.), sondern sich selbst (in seinem Verhältnis zu uns). Gottes Offenbarung ist darum keine „Information“, die man zur Kenntnis nehmen könnte, ohne davon betroffen zu sein. Vielmehr schafft Offenbarung das Faktum einer Beziehung, die unser Leben verändert, weil Gott darin den Dialog mit uns eröffnet: Sein Wort sucht unsere Antwort.