Der Mensch neigt dazu, sich entweder stolz zu überschätzen und zu überheben oder - von solchen Höhenflügen abgestürzt - in Verzweiflung zu versinken und die Selbstachtung zu verlieren. Gott aber will uns vor beidem bewahren und gibt uns darum als „Begrenzung nach oben“ sein Gesetz (es zwingt uns zu nüchterner Selbsterkenntnis und schützt so vor aller Aufgeblasenheit) und als „Begrenzung nach unten“ sein Evangelium (auch wo wir versagen, sagt es uns Gottes Liebe zu, die uns trägt).
Was hilft gegen Hochmut und Verzweiflung?
Erinnern sie sich an die Vogelkinder, die man – selbst noch ein Kind – manchmal am Wegesrand gefunden hat? Sie waren zu früh aus dem Nest gefallen, bei den ersten ungeschickten Flugübungen abgestürzt und saßen dann irgendwo im Gras: Eine leichte Beute für die Katze. Als Kinder wollten wir diese Vögel natürlich nicht ihrem Schicksal überlassen. Wir hoben sie vorsichtig auf, um sie zuhause durchzufüttern. Aber man musste sehr vorsichtig sein mit diesen halbstarken, halbreifen Vögelchen, denn sie blieben in der Hand nicht einfach sitzen. Sie flatterten immer wieder hoch hinauf, stürzten zu Boden und verletzten sich dabei immer mehr. Man musste sie deshalb in ganz bestimmter Weise tragen: Mit einer Hand darunter und einer Hand darüber. Nur so waren sie sicher, nur so – nach oben und nach unten begrenzt – konnte man sie tragen. Nun fragen sie sich vielleicht, warum ich das erzähle. Es hat einen einfachen Grund: Ich meine, dass wir Menschen alle solche halbstarken, halbreifen Vögel sind. Und zwar nicht nur die Jugendlichen, sondern ebenso die Erwachsenen. Wir alle sind in dieser doppelten Gefahr, dass wir immer wieder viel zu hoch hinaus wollen und dabei immer wieder tief hinabstürzen. Die einen denken immer zu groß von sich, schmieden maßlose Pläne, wollen einander übertrumpfen, steigen auf die Schultern ihrer Nachbarn und schauen auf sie herab. Und die anderen, die von solchen Höhenflügen abgestürzt sind, verlieren leicht jegliche Selbstachtung und verfallen in bodenlose Depression und Weinerlichkeit. Die einen sind dauernd damit beschäftigt, sich über ihre eigentliche Größe hinaus aufzublasen. Und die anderen hassen sich selbst und die Welt. Bedarf es einer besonderen Erklärung, dass beide Haltungen Sünde sind? Selbstüberhebung ist Sünde, weil der Überhebliche den Rang nicht akzeptiert, den Gott ihm zugemessen hat. Und Verzweiflung ist auch Sünde, weil der, der sich selbst hasst, damit all das Gute leugnet, das Gott in ihn gelegt hat. Zu hoch hinaus – zu tief hinab: Das ist demnach nicht nur das Problem jener Vögel, die bei den ersten Flugübungen abstürzen. Es ist unser aller Problem. Denn so groß die Zahl der Aufgeblasenen in unserer Gesellschaft ist, so groß ist auch die Zahl derer, die ihr Selbstwertgefühl verloren haben. Und viele wechseln zeitlebens von einem Extrem ins andere. Daher drängt sich der Gedanke auf: Wir alle bräuchten zeitlebens so eine Hand unter uns, die den Absturz verhindert, und eine Hand über uns, die den Höhenflug begrenzt. Wir bräuchten eine Instanz, die uns gleichermaßen mit realistischer Selbsterkenntnis und mit unverwüstlichem Selbstwertgefühl ausstattet. Gibt es diese Instanz? Gibt es solche Hände? Ja – zum Glück. Es sind Gottes Hände. Und sie können uns durch unser Leben tragen, wie jene Kinderhände einen Vogel tragen. Denn Gottes Wort enthält die doppelte Botschaft von Gesetz und Evangelium – eine obere und eine untere Hand gewissermaßen: Das strenge Gesetz Gottes ist über uns, damit wir uns nicht erheben in gefährliche Höhen, damit wir uns nicht erheben über unseren Mitmenschen und uns schon gar nicht erheben über Gott. Das Gesetz erzwingt nüchterne Selbsterkenntnis, es lehrt uns, unsere Grenzen realistisch zu sehen und auf dem Teppich zu bleiben. Es duldet nicht, dass wir vor unserer Schuld und unserem Versagen die Augen verschließen, sondern hält uns all die Gebote Gottes vor, gegen die wir verstoßen. So verhütet Gottes Gesetz alle Aufgeblasenheit und allen Übermut. Es schärft uns ein, dass wir uns Gott zu beugen und ihn zu fürchten haben. Und dennoch: Das Gesetz, Gottes Hand, die über uns ist, drückt uns nicht etwa in den Staub hinunter. Denn unter uns ist die andere Hand Gottes, das Evangelium, das unseren Absturz verhütet, indem es uns Gottes Barmherzigkeit und Freundlichkeit zusagt. Das Evangelium, die gute Nachricht von Gottes Gnade, ist fester Boden unter unseren Füßen. Mögen da noch so viele Misserfolge und Selbstzweifel sein, mögen auch noch so viele Mitmenschen auf unserem Selbstwertgefühl herumtrampeln, mag noch so viel schief gehen im Leben – das Evangelium duldet dennoch keine Resignation und keine Verzweiflung. Vielmehr erwächst uns aus dem Evangelium ein unverwüstliches Selbstwertgefühl. Denn dieses christliche Selbstwertgefühl ist unabhängig von den eigenen Erfolgen und Leistungen. Es kommt aus dem Bewusstsein, ein Kind Gottes zu sein. Das Evangelium gibt uns darauf Brief und Siegel: Du bist bei Gott geliebt, bei Gott anerkannt, bei Gott wohl angesehen – also lass die anderen schwatzen, was sie wollen... Wer beide Worte Gottes hört und gelten lässt, wird nicht mehr zwischen Hochmut und Verzweiflung hin- und herschwanken, wie es für den Unglauben typisch ist. Vielmehr geben ihm Gesetz und Evangelium gemeinsam einen festen Rahmen, innerhalb dessen unsere Selbsteinschätzung beides sein kann: Nämlich vorbehaltlos realistisch und illusionslos einerseits – getrost und zuversichtlich aber andererseits: Ein Schüler fragte den Rabbi: „Was ist der Mensch?“ Dieser antwortete, er solle zwei Zettel nehmen. Auf einen Zettel schreibe "Der Mensch ist nur Staub". Diesen Zettel sollst du in die linke Tasche stecken. Auf dem Zettel, den du in die rechte Tasche steckst, soll stehen "Gottes Odem habe ich in mir". Und nun, wenn du hochmütig zu werden drohst, fasse in die linke Tasche, und du wirst daran erinnert, dass du sterblich bist und dich nicht so wichtig nehmen darfst. Wenn du traurig bist, dann fasse in die rechte Tasche, und du wirst daran erinnert, dass Gott dein Leben will und es in seiner Einzigartigkeit kostbar ist.