RICHTEN

 

„Welches ist der Mörder, von dem Christus sprach? Das ist der unsagbar schlimme Hang, (andere Menschen) zu verurteilen, der sich in der Natur des Menschen findet und dessen viele ganz voll sind. Dieser Hang ist so recht im Menschen verwurzelt, einen anderen stets bessern zu wollen und sich selbst oft nicht bessern zu können. So sehr neigt der Mensch zur Verurteilung anderer: einer spricht ihm zu viel, ein anderer zu wenig, der isst ihm zu viel, jener nicht genug, dieser weint zu viel, jener sollte mehr weinen; in allen Dingen findet sich dieses todbringende Verurteilen, und begleitet ist es im Herzen und im Grund von einer tiefen Verachtung, die sich zuweilen nach außen im Benehmen und in Worten kundtut. Derart bringt man anderen dieselbe tödliche Wunde bei, die man sich selbst zugefügt, indem man ein schlimmes Urteil zu verstehen gibt; und schließlich versetzt man auch dem Nächsten, dem man eine schlechte Meinung (über den anderen mitteilt), eine tödliche Wunde, wenn er sie mit Wohlgefallen anhört. Was weißt du (denn) vom Wesen deines Nächsten? Was von Gottes Willen mit ihm, oder auf welchem Weg Gott ihn gerufen oder geladen hat? Und seine Werke willst du nach deinem Kopf ausrichten und beherrschen, willst Gottes Willen ausschalten und mit deinem falschen Urteil verbessern? Solcher Mörder richtet unfassbar großen Schaden unter geistlichen Leuten an, und sie denken nicht daran, dass Gott sprach: „Richte nicht, damit du nicht gerichtet werdest; mit dem Maße, mit dem du missest, wird dir wieder gemessen werden.“ (Johannes Tauler)