SELBSTERKENNTNIS

 

„Den Menschen zu erkennen ist so mühsam, wie einen Tintenfisch fangen. Denn wie dieser sich in seinem schwarzen Safte verbirgt, damit man ihn nicht greifen kann, so entwickelt der Mensch, sobald er merkt, dass man an ihn will, plötzlich so dichten heuchlerischen Wolkendunst, dass auch das schärfste Auge ihn nicht fassen kann. (Beweis sind: 1. Kor. 2,11, Jer. 17,9 f.) ... Aus diesen Zeugnissen erhellt: der Mensch kann nicht vom Menschen erkannt werden. Seine Frechheit im Lügen, seine Bereitwilligkeit, zu leugnen und zu verleugnen ist so groß, dass er, wenn Du glaubst, ihn irgendwo gefasst zu haben, längst durch eine Hintertür entschlüpft ist. Sagst Du: Der Prophet bezeugt öffentlich, dass das Menschenherz böse sei Jer. 17,9, so gleitet er Dir sofort aus den Händen durch die Erklärung, „böse“ stehe hier für „geneigt zum Bösen“, und betreffe nicht alle Menschen. Dabei hat er im Auge, wenn ihm die Ablösung einiger von der totalen Verderbtheit gelingt, dass er dann auch zu diesen Glücklichen gerechnet werde, oder er zielt auf den Ruhm und die Unschuld eines stets ehrbaren Herzens. Da man also zu den Verborgenheiten des menschlichen Herzens keinen Zugang finden kann, müssen wir jedenfalls verzweifeln, es zu erkennen. Sei’s drum! Möge jeder sich selbst erkennen, von einem anderen wird er doch nicht erkannt, obwohl er solchen Vorrat an Eigenliebe besitzt, dass nur wenige, ja, gar keine durch diesen Berg hindurch zur Selbsterkenntnis durchstoßen können. So wird man die Geheimnisse des Menschenherzens nur unter der Leitung Gottes, des himmlischen Baumeisters des Menschen, erkennen können. Der hat den Menschen geschaffen und kennt nun alle Tiefen seiner Schliche und ihren Ursprung ... Bei Gott also, dem Schöpfer des Menschen, muss man die Erkenntnis des Menschen suchen, so gut wie die Gotteserkenntnis. Nur aus verschiedenen Ursachen. Die Erkenntnis Gottes ist unserem Verstande versagt, weil sie zu glänzend und licht ist für seine Schwäche; die Erkenntnis des Menschen aber wegen seiner Frechheit und Bereitwilligkeit im Lügen und Erdichten.“ (Ulrich Zwingli)