Wenn ein Mensch an der Welt und an sich selbst verzweifelt, muss man ihm das nicht ausreden und ihm Pillen verschreiben, sondern kann ihm zur klaren Sicht der Dinge gratulieren. Nur sollte er Gott dabei ausnehmen, an dem zu verzweifeln kein Anlass besteht. Und hält er an ihm fest, hat sich die Gesamtbilanz seines Lebens nicht verschlechtert. Gottes Gnade ist am Ende alles, was er hat. Aber sie ist auch alles, was er braucht. Darum – wohl dem, der auf die rechte Weise verzweifelt ist! Denn niemand ist der Gnade näher, als der, dem sich aller falsche Trost entzogen hat.
Vielleicht kommt ihnen die Frage seltsam vor. Aber – kann ein Christ verzweifeln? Ist das möglich? Ist das erlaubt? Oder widerspricht es dem Christ-Sein, das doch so sehr von Hoffnung, Freude und Zuversicht geprägt ist? Manche Christen tun ja so, als ginge es ihnen immer gut. Sie möchten gern „erlöst“ aussehen, um damit für den Glauben zu werben. Im Sinne einer „Frohbotschaft“ und „Guten Nachricht“ fühlen sie sich verpflichtet, um jeden Preis „positiv“ zu denken. „Und wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her!“ Die anderen aber, die mit ihren Nerven am Ende sind und das mit dem „Lichtlein“ schon nicht mehr hören können, die fühlen sich umso schlechter, weil sie Christen sein wollen – und trotzdem negativ drauf sind.
Ihr Leben läuft eben schief. Sie spüren Wut, Enttäuschung, Verzweiflung, Bitternis und bleierne Müdigkeit. Ihre Welt geht in Scherben, und ihre Seele blutet. Denn alles hat sich gegen sie verschworen. Und zu allem Unglück meinen sie dann auch noch, schlechte Christen zu sein, weil sie so gar keinen Trost fühlen und keine Zuversicht, sondern eben nur Schmerzen. „Was bin ich denn für ein Christ“ sagen sie, „wenn mein Leben nicht voller Lobpreis ist, sondern voller Gejammer und unterdrückter Flüche? Müsste ich durch den Heiligen Geist nicht Hoffnung haben, Geduld und innere Stärke?“ Wenn sie von alledem aber nichts spüren, sind sie bald überzeugt, nicht nur im Leben, sondern auch im Glauben gescheitert zu sein. Denn die ewig positiven „Grinse-Christen“ behaupten ja, der Glaube mache glücklich und seine Botschaft mache fröhlich!
Aber ist das wirklich so? Stimmt die Voraussetzung, die hier gemacht wird – dass nämlich die Erlösten und von Gott Geliebten sich auch jederzeit erlöst und geliebt fühlen? Erkennt man Gottes Kinder an ihrer guten Laune? Man könnte eine Menge biblischer Beispiele anführen, die das Gegenteil beweisen! Denn Gott war z.B. auf den Hiob sehr stolz, und Hiob fühlte sich doch von Gott misshandelt und verworfen. Gott hat mit Sicherheit seinen treuen Propheten Jeremia geliebt, aber Jeremia hat das durchaus nicht immer gespürt, sondern den Tag seiner Geburt verflucht. Paulus bekennt, er habe inständig aber vergeblich zu Gott gefleht, dass eine äußerst schmerzhafte Krankheit von ihm genommen würde. Und selbst Jesus tat am Kreuz einen Schrei der Verzweiflung, indem er rief: „Mein Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen?“ Weder bei Hiob noch bei Jeremia, Paulus oder Jesus kann man sich vorstellen, dass sie in ihrer Qual fröhliche Gesichter gemacht hätten. Und ich bezweifle auch, dass Christen zu gehobener Stimmung verpflichtet sind. Denn Gott lässt die Seinen durchaus nicht mit erlöstem Lächeln über den Erdboden schweben, sondern stellt sie mit beiden Beinen in dieses Leben hinein, das so oft schmutzig und blutig, rätselhaft und quälend ist. Auch Christen sind der Not nicht enthoben. Auch im vollen Bewusstsein der Gnade fühlen sie den Schmerz immernoch als Schmerz, den Verrat als Verrat und die Schmach als Schmach. Und ich kenne keinen noch so guten Christen oder Pfarrer, der, wenn er mit dem Hammer seinen Daumen trifft, nicht ein klein wenig zu fluchen verstünde…
Doch freilich klärt das noch nicht die Frage, von der wir ausgingen – ob denn ein Christ verzweifeln kann? Denn Verzweiflung geht ja tiefer als der gewöhnliche Ärger. Und sie ist auch grundsätzlicher als eine schlechte Laune. Verzweiflung ist nicht die Feststellung, dass auf dies oder das kein Verlass ist. Sondern Verzweiflung im vollen Sinne des Wortes meint, dass auf gar nichts mehr Verlass ist. Verzweiflung raubt uns nicht eine Stütze und lässt dafür andere stehen, sondern sie raubt uns jeden Halt. Wer verzweifelt ist, sieht darum in gar nichts mehr Sinn. Er will das Leben insgesamt hinwerfen, weil überhaupt kein Plan mehr aufgeht. Er weiß nicht mehr weiter und sieht keinen Ausweg, weil es keine Optionen gibt, die Erfolg versprechen. Er ist sicher, dass es nur noch böse ausgehen kann, und ist daher ratlos, hoffnungslos und handlungsunfähig seiner Angst vor dem Kommenden ausgeliefert. Und so gesehen schließt echte Verzweiflung auch den Verlust des Gottvertrauens mit ein, bei dessen vollständigem Verlust dann kein Glaube mehr bestehen kann. Wenn die Resignation auch Gott mit einschließt und auch ihm nichts mehr zutraut, dann ist sie wohl wirklich mit dem Glauben unverträglich…
Aber wann wäre ein Mensch überhaupt berechtigt, auf so „pauschale“ und „restlose“ Weise zu verzweifeln? Ist Verzweiflung nicht in der Regel auf einen Anlass bezogen, auf einen konkreten Schicksalsschlag? Und müsste man da nicht besser auseinanderhalten, woran einer verzweifelt? Ich meine, wenn einer an der Welt verzweifelt, beweist er nur seinen gesunden Verstand, denn diese Welt ist wirklich zum Verzweifeln. Das Böse hat sie im Griff. Und gerade der christliche Glaube ist weit davon entfernt, sich diesbezüglich Illusionen zu machen. Denn wenn die Welt an sich schon Anlass zur Hoffnung böte, hätte nicht Gottes Sohn kommen müssen, sie um den Preis seines Lebens zu erlösen. Und für den einzelnen Menschen gilt dasselbe. Wenn einer an sich selbst verzweifelt, ist er nicht etwa krank, sondern beweist nur klaren Verstand, denn jeder von uns verfehlt das gute Ziel auf seine spezielle Weise. Der christliche Glaube bestreitet das nicht etwa, sondern bestätigt ausdrücklich unsere Verlorenheit. Denn wenn Sünder noch anders zu retten wären, würde ihnen nicht empfohlen, ausschließlich auf Gnade zu setzen! Wenn ein Mensch also an der Welt und an sich selbst so irre geworden ist, dass er weder von der Welt noch von sich selbst etwas erwarten mag, dann muss man ihm das nicht ausreden und ihm Pillen verschreiben, sondern kann ihm zur klaren Sicht der Dinge gratulieren…
Aber ist seine Verzweiflung dann auch schon „vollständig“? Ist neben Welt und Mensch nicht auch noch Gott im Spiel? Und hätte der im gleichen Maße Anlass gegeben, dass man an ihm verzweifelt? Nein – gerade das kann man aus gutem Grund und zum eigenen Vorteil bleiben lassen! Denn von der Welt und von sich selbst enttäuscht zu sein, ist eine Sache. Von Gott enttäuscht zu sein, aber eine ganz andere! Und es ist viel gewonnen, wenn man einem Verzweifelten diesen Unterschied bewusst machen kann. Denn das überwältigende Gefühl, alles verloren zu haben, erfährt eine Einschränkung, sobald man Gott davon ausnehmen muss. Wer’s einsieht, kann nicht mehr „total“ verzweifelt, sondern nur noch „relativ“ verzweifelt sein. So wie Hiob und Jeremia, Paulus und Jesus behält er in Gott einen Ansprechpartner, zu dem er rufen und schreien kann. Und indem er seine Not an Gott adressiert, bewahrt er die Hoffnung, Gehör zu finden. Seine Verzweiflung erstickt ihn nicht, weil er sie bei Gott loswerden und sie ihm vor die Füße werfen kann. Und übersteht er seine Krise, wird diese Erfahrung seinem Glauben noch nicht mal geschadet, sondern wird ihn gefestigt haben. Denn die Empfehlung des Glaubens war ja schon immer, von der Welt und von sich selbst möglichst wenig zu erwarten. Der Glaube verwies die Güter und Erfolge des Lebens schon immer auf den zweiten Rang. Und wer ihnen einmal vertraute und gründlich von ihnen enttäuscht wurde, wird künftig wissen, warum die Bibel ihn davor gewarnt hat. Denn ihm hat sich als trügerisch erwiesen, was sie schon im Voraus für trügerisch erklärte. Das bleibt eine hässliche Erfahrung! Aber man kann nicht sagen, dass sie das Christ-Sein in Frage stellte. Denn das hätte der Betreffende ja schon vorher dem Neuen Testament entnehmen können, dass auf Klugheit und Geld, auf Freundschaft und Macht, auf Gesundheit und Liebe kein Verlass ist. Wenn ein Christ das schmerzhaft am eigenen Leibe erfährt, entdeckt er damit nichts Neues, das ihn zwänge umzudenken, sondern er entdeckt nur, wie die Bibel so Recht hat! Hat Gottes Wort aber im Bitteren Recht – könnte es sich da nicht auch im Tröstlichen als wahr erweisen? Der Schmerz der Verzweiflung zeigt eigentlich nur, dass einer an den Gütern, Ehren und Freuden dieser Erde mehr hing, als es gut war. Aber wäre deren Abschied nicht sowieso gekommen? Verlor man nicht Vergängliches, das ohnehin nicht ewig geblieben wäre? Und reist man nach solchem Verlust nicht mit leichterem Gepäck dem Himmel entgegen? Der Schmerz soll damit gar nicht geleugnet werden! Vielleicht verliert jemand seinen guten Ruf oder seine Gesundheit. Vielleicht stirbt ihm ein lieber Mensch, oder die Bank nimmt ihm sein Haus weg. Das Leben kann echt gemein sein! Das Schicksal ist wirklich „ein mieser Verräter“! Aber wenn diese Erfahrung nur bestätigt, was der Glaube schon wusste – hat sich dann wirklich viel geändert? Ist dann wirklich so viel passiert, dass es die Verzweiflung lohnt?
Der Verzweifelte sagt: „Aber ich kann mir nicht verzeihen, dass ich so dumm war und solche Fehler gemacht habe, ich fühle mich wie ein Trottel!“
Aber der Glaube antwortet: „Was dachtest du, was du vorher warst? Dass du dir bisher selbst vertraut hast, war die größte Dummheit! Und was passiert ist, hat dir nur diese Illusion genommen. Du bist jetzt klüger und wirst hoffentlich künftig der Weisheit Gottes mehr zu trauen als deiner eigenen!“
Der Verzweifelte jammert: „All meine Pläne sind gescheitert, der Besitz ist verloren und meine Karriere kann ich vergessen. Alle Sicherheiten sind dahin und meine Zukunft ganz ungewiss!“
Der Glaube aber antwortet: „Auf deine Pläne kam es noch nie an, denn Gottes Pläne sind wichtiger. Deinen Besitz hättest du sterbend sowieso zurückgelassen. Und die Karriere hast du nur für deine Eitelkeit gebraucht. Was du deine „Sicherheiten“ nennst, hat offenbar wenig getaugt, denn sonst wärst du jetzt nicht am Boden. Und deine Zukunft ist ganz dieselbe geblieben, die du auch vorher zu erwarten hattest. Denn du wirst eines Tages sterben und um des Glaubens willen in Gottes Reich eingehen.“
„Ja, aber“ ruft der Verzweifelte: „Wird mich Gott noch aufnehmen, nachdem ich so versagt habe und ihm nichts vorweisen kann?“
„Mach dir darum mal keine Sorgen“ antwortet der Glaube: „Denn der Stolz auf deine vermeintlichen „Leistungen“ hat Gott mehr geärgert, als deine „Leistungen“ ihm gefallen konnten. Außerdem kannte Gott schon dein Versagen, als du dir noch erfolgreich vorkamst. Er wusste um deine Sünde, schon bevor sie zu Tage trat, und du dich blamiert hast. Die Bilanz deines Lebens ist darum aber gar nicht schlechter geworden. Denn was du vorzuweisen hattest, war schon immer „null“. Und wie sehr du dich auch aufregst und sorgst – es wird selbst dir nicht gelingen, Gott weniger als nichts zu bieten. Seine Gnade muss den ganzen Preis deiner Erlösung zahlen. Aber das weiß Gott schon seit einer Ewigkeit – und seine Gnade ist reich genug dafür…“
„Du hast gut reden“ klagt der Verzweifelte: „Aber meine Freunde lachen über mich, meine Feinde triumphieren, und die mich liebten, sind alle nicht mehr da.“
„Na und?“ antwortet der Glaube: „Weder deine Freunde noch deine Feinde werden jemals deine Richter sein, sondern Gott wird es sein. Nur sein Urteil zählt. Und die Liebe der Menschen hätte dir nie weiter geholfen als nur bis an den Rand des Grabes. Gottes Liebe dagegen begleitet dich darüber hinaus. Und wenn du auch gründlich gescheitert bist, lässt sie deinen Lohn deswegen doch nicht geringer werden. Es ist immer noch eine vollständige, unverkürzte Seligkeit, die dich erwartet. Sei also nicht verzweifelt, weil du in deinem Jammer der Liebe Gottes nicht wert bist. Du warst es auch vorher nicht, als du noch auf dem hohen Ross saßest! Die Kontrolle über dein Leben konntest du gar nicht verlieren, denn du hattest sie nie. Sie lag immer in Gottes Hand. Und wenn du nun seiner Gnade restlos ausgeliefert bist, ist auch das nicht neu. Was soll also die Aufregung? Unter all den Krankheiten, die du beklagst, ist keine, die Gott nicht heilen könnte…“
„Ich habe aber das Gefühl unterzugehen und zu sterben!“ - ruft der Verzweifelte.
Doch der Glaube antwortet: „Es stirbt nur, was zu sterben bestimmt ist. Und nichts könnte sterben, wenn Gott das nicht für richtig hielte. Also beruhige dich. Der Tod ist auch das Ende deiner Verzweiflung. Und was du momentan erfährst, hast du im Glauben schon längst gewusst. Auf Menschen ist kein Verlass – und auf dich selbst am wenigsten. Nicht nur der Glanz der Welt vergeht, sondern auch dein eigener. Aber das ist kein Grund zur Panik. Denn als du noch deine Illusionen pflegtest, hat Gott längst für dich vorgesorgt. Deine Hoffnung fußte nie wirklich auf der Welt, auf deinen Freunden oder deinen Leistungen – sie fußte schon immer auf Gottes Nachsicht und Gnade. Und an der hat sich nichts geändert, seit du auf der Nase liegst. Verloren hast du lediglich eitle Träume, um die es nicht schade ist. Geblieben ist aber die Wahrheit des Glaubens und die Treue Gottes. Die wiegen alles auf, was an dir fehlen mag! Darum ist die Bilanz deines Lebens durch dein Scheitern gar nicht anders geworden, sondern nur sichtbar. Gottes Gnade ist nun alles, was du hast. Aber sie ist auch alles, was du brauchst. Ist also wirklich viel passiert? Es hat Gott gefallen, dir durch Schmerzen die Augen zu öffnen. Aber die Wunden, die der Allmächtige schlägt, vermag er auch zu heilen…“
Ich muss das Gespräch zwischen Glaube und Verzweiflung nicht weiter ausführen. Denn es kann ein ganzes Leben füllen. Und viele kennen sich damit besser aus als ich. Nur will ich festhalten, was mir als Ergebnis wichtig ist: Glaube und Verzweiflung können durchaus miteinander bestehen, wenn der Betroffene unterscheidet, worauf sich das eine und worauf sich das andere bezieht. Wenn sich die Verzweiflung auf die eigene Person und auf die Welt bezieht, während der Glaube Gott davon ausnimmt, dann verträgt sich das nicht nur, sondern es harmoniert so gut, dass wir unsere Eingangsfrage herumdrehen und eine These draus machen können: wer glaubt, „darf“ nicht nur Verzweiflung spüren, sondern in gewisser Weise muss er es sogar. Denn nur, wer an sich selbst und der Welt gründlich genug verzweifelt ist, wird sich Gott mit voller Hingabe in die Arme werfen.
Im Weltvertrauen und Selbstvertrauen hängt sich der Mensch an falsche Götter. Von denen aber mal ganz im Stich gelassen zu werden, ist die gesündeste Kur, die man sich denken kann. Darum: wohl dem, der auf die rechte Weise verzweifelt ist! Denn niemand ist der Gnade näher, als der, dem sich aller falsche Trost entzogen hat.