Der Glaube lebt von Gottes Nähe. Doch manchmal scheint es, als sei er abwesend und fern. Diese Erfahrung ist bedrohlich. Und trotzdem gilt es, ihr standzuhalten. Man darf Gott dann nicht durch irgendetwas anderes ersetzen. Und man sollte auch nicht so tun, als käme man ohne ihn aus. Man halte einfach Gottes Platz frei und ertrage die Leere, die er uns zumutet. Denn Gott verbirgt sich, aber er verlässt uns nicht. Er bleibt der barmherzige Vater, der versprochen hat, zurückzukommen. Die Bereitschaft aber, auf ihn zu warten – das ist Glaube.
Was, wenn Gott schweigt und sich entzieht?
Christlicher Glaube lebt davon, dass Gott sich dem Menschen erschließt und ihm zugänglich wird. Doch tut Gott das nicht andauernd. Sondern manchmal scheint es uns, als habe er den Kontakt abgebrochen. Wir haben dann das Gefühl, Gott sei abwesend, fern oder gar feindselig. Und diese Erfahrung ist so bedrohlich, dass man nicht gern darüber spricht. Für gewöhnlich redet man ja lieber von der Gegenwart Gottes – man versichert sich seiner Nähe. Es ist ja auch viel schöner, zu betonen und zu betrachten, wie Gott sich uns offenbart, sich uns erschließt und sich uns freundlich zuwendet. Doch wenn wir ehrlich sind, müssen wir auch das andere gestehen, das wir ebenso erfahren: Dass Gott uns nämlich für kürzere oder längere Zeit entgleitet, dass er sich von uns abzuwenden scheint, sich entzieht und sich verbirgt. Vielleicht reden wir ungern davon, weil wir diese Erfahrung auf unsere Glaubensschwäche zurückführen. Wir meinen, es läge an uns. Doch das stimmt nicht. Selbst ein Mann wie der Prophet Jesaja musste es erfahren. „Fürwahr“ sagt er „du bist ein verborgener Gott, du Gott Israels, der Heiland.“ (Jes 45,15) Das ganze Buch Hiob erzählt von der schrecklichen Unbegreiflichkeit Gottes. Die Klagelieder Jeremias sind voll davon. Und sogar Jesus fühlte sich am Kreuz von Gott verlassen. Warum also sollten wir leugnen, dass auch wir solche Stunden kennen, wo uns der Glaube abhandenkommt, weil Gott schweigt, weil er fern erscheint, finster und unzugänglich? Manchmal kommt das über einen einzelnen Menschen – und manchmal kommt es über ein ganzes Land oder eine Epoche. Wir verlieren dann einfach den Kontakt, Gottes Angesicht scheint sich in eine undurchschaubare Maske zu verwandeln, das biblische Wort redet nicht mehr zu uns, wir finden keinen Zugang. „Gottesfinsternis“ hat das mal jemand genannt. Und ich kenne keinen reifen Christenmenschen, der davon nicht zu berichten wüsste. Es ist eine Erfahrung, um die keiner herumkommt. Die Frage kann darum nur sein, wie man angemessen damit umgeht. Wie verhält man sich in geistlichen Dürreperioden? Was sollen wir tun, wenn Gott sich uns entzieht? Gibt es darauf eine sinnvolle menschliche Reaktion? Ich will versuchen, mit einem Gleichnis darauf zu antworten:
Es war einmal ein Indianerstamm, der lebte ganz und gar von der Büffeljagd. Die Zelte, in denen die Indianer wohnten, waren aus Büffelhaut. Das Fleisch, das sie aßen, war Büffelfleisch. Und die Tänze, die sie am Lagerfeuer tanzten, waren allesamt Büffeltänze. So war das schon seit Hunderten von Jahren. Und niemand konnte sich erinnern, dass es je anders gewesen wäre. Hätte jemand die Indianer gefragt, was sie eigentlich zu Indianern macht, so hätten sie geantwortet: „Wir jagen den Büffel, wir essen den Büffel, wir tanzen den Büffeltanz – das macht uns Indianer zu Indianern!“ Doch niemand stellte diese Frage. Denn es gab keinen Anlass dazu. Eines Tages aber bemerkten die Indianer, dass sich etwas veränderte. Es waren nämlich immer weniger Büffel, die das Indianerland durchzogen. Natürlich waren die Indianer nicht glücklich darüber. Aber sie fanden Wege, um damit zu leben: Wenn die Büffel ausblieben, jagten sie stattdessen Hasen und Rebhühner. Wenn ihre Zelte repariert werden mussten, nahmen sie an Stelle von Büffelleder Ziegenleder. Und als nicht mehr alle von der Jagd leben konnten, begannen einige sogar Schafe zu züchten und Getreide anzupflanzen. Es ging den Indianern gar nicht so schlecht dabei. Nur wurde es immer schwieriger, mit den jungen Indianern über Büffel zu reden. Denn sie wuchsen auf, ohne jemals einen Büffel gesehen zu haben. „Was gehen uns die Büffel an?“ – sagten sie manchmal. „Vielleicht gibt es gar keine! Vielleicht gab es nie welche!“ Die älteren Indianer standen dann wie vom Donner gerührt. Und der Häuptling wies die Jungen zurecht: „Natürlich gibt es Büffel. Es muss sie ja geben. Denn wie könnten wir sonst Indianer sein? Wir jagen den Büffel, wir essen den Büffel, wir tanzen den Büffeltanz. Das ist es schließlich, was uns Indianer zu Indianern macht!“ Es herrschte dann Ruhe. Und trotzdem war es nicht mehr wie früher. Denn der Indianerstamm begann sich allmählich in verschiedene Gruppen aufzuspalten. Die erste Gruppe sagte: „Wenn das Leben mit dem Büffel den Indianer zum Indianer macht, dann kann man ohne Büffel kein Indianer sein. Es gibt aber keine Büffel mehr. Also hat es keinen Sinn, dass wir uns weiterhin Indianer nennen.“ Sie legten alle Waffen ab, die man zur Büffeljagd braucht. Sie zogen in die Städte der Weißen und trugen fortan auch ihre Kleider. Sie arbeiteten in den Fabriken der Weißen und vermischte sich bald mit ihnen. Sie vergaßen, wie man den Büffeltanz tanzt. Und sie erzählten ihren Kindern auch die alten Büffelgeschichten nicht mehr. Denn für sie waren das „Märchen“. Die zweite Gruppe hatte dafür nur Verachtung übrig. Sie sagten: „Wir sind Indianer und wir wollen Indianer bleiben. Es macht aber den Indianer zum Indianer, dass er tut, was Indianer immer taten. Also werden wir den Büffel finden und ihn jagen – koste es, was es wolle.“ Sie unternahmen lange Streifzüge durch die Wälder, wie es schon die Väter getan hatten. Sie marschierten, bis es ihnen vor Müdigkeit vor den Augen flimmerte. Dann tranken sie starke Getränke, sangen die alten Lieder und tanzten die ganze Nacht hindurch den Büffeltanz, bis sie in Verzückung gerieten. Wenn sie am nächsten Tag erschöpft ins Lager zurückkehrten, schauten sie stolz auf die anderen herab und sprachen: „Ha, es gibt sehr wohl noch Büffel! Man muss nur tun, was die Väter schon immer taten. Dann kann man sie da draußen sehen.“ Ein Büffelfell haben sie aber nie mit nach Hause gebracht. Und wenn man sie danach fragte, wurden sie sehr böse. Ihre Kinder mussten den Büffeltanz so lange üben, bis sie selbst glaubten, sie wüssten, wie sich ein Büffel bewegt. Und wenn einer von den Jungen Zweifel äußerte, wurde er aus der Gemeinschaft verstoßen. Der dritten Gruppe erschien diese Haltung unbarmherzig. Waren denn nur die Harten und Starken vollwertige Indianer? Durfte man die Jugend vom Indianer-Sein abschrecken, indem man ihr eine mühselig-erfolglose Büffelsuche zumutete und ihr traditionelle Jagdtechniken vermittelte, die sie gar nicht mehr brauchte? Würde man sie mit solch hohen Ansprüchen nicht den Weißen in die Arme treiben? „Nein“ sagten sie: „Es macht den Indianer zum Indianer, dass er ein Indianer sein will“. Man befand also, dass eine Kuh ja quasi fast ein Büffel sei, hängte einer Kuh ein altes Büffelfell über und veranstaltete dann in bequemer Ortsnähe eine (fast echte) „Büffeljagd“. Es musste zwar den Ungeübten beim Zielen geholfen werden. Und in Einzelfällen musste man den zu jagenden „Büffel“ sogar an einen Pfahl anbinden. Aber auf diese Weise kam jeder zum Schuss, konnte sich seiner indianischen Identität vergewissern und durfte sich hinterher „Jäger“ nennen. Freilich gab es auch noch eine vierte Gruppe, die alle anderen belächelte. Denn sie bestand aus Intellektuellen. Sie hatten lange nachgedacht und waren zu dem Schluss gekommen, dass das „Leben mit dem Büffel“, das den Indianer zum Indianer macht, eigentlich schon immer eine „innere“ und „spirituelle“ Angelegenheit gewesen sei. Sie sagten: „Es macht den Indianer zum Indianer, dass er wie ein Indianer denkt und fühlt. Und dazu braucht man keinen Büffel aus Fleisch und Blut. Man hat ihn nie gebraucht. Denn es kommt allein auf den indianischen Geist an. Wer die büffelmäßige Einstellung hat, der kann auf Pfeil und Bogen verzichten. Denn entscheidend ist das indianische Selbstverständnis.“ Diese Gruppe verstand sich auffallend gut mit den Weißen. Sie aßen, lebten und arbeiteten eigentlich ganz wie die Weißen. Aber sie legten großen Wert darauf, echte Indianer zu sein. Nur eine Familie konnte sich keiner dieser Parteien anschließen. Sie wollten einfach nur Indianer bleiben - und sie liebten den Büffel. Sie hörten darum nicht auf, Pfeile für die Büffeljagd zu schnitzen. Und sie hörten nicht auf, die alten Büffelgeschichten zu erzählen. Sie gaben offen zu, lange keinen Büffel mehr gesehen zu haben. Aber sie warteten geduldig auf seine Rückkehr. Und wenn jemand fragte, ob sie eigentlich noch vollwertige Indianer seien, so antworteten sie: „Solange der Büffel nicht da ist, macht es den Indianer zum Indianer, dass er auf den Büffel wartet: Er tut nicht so, als wäre der Büffel da. Er tut nicht so, als könne er ihn entbehren. Und vor allem lässt er nichts anderes an seine Stelle treten. Nur der hört auf ein Indianer zu sein, der anfängt etwas anderes zu sein. Nur der verrät den Büffel, der nicht mehr auf ihn wartet.“ Viele Jahre vergingen. Eines Tages aber kehrte der Büffel tatsächlich zurück. Ein Indianerjunge entdeckte es zuerst, und lief aufgeregt ins Lager. Er rief: „Kommt! Ich habe Büffel gesehen! Kommt alle mit: Im Tal sind Büffel!“ Die Indianer erschraken. Einige wollten schon aufspringen. Doch sollten sie dem Jungen wirklich folgen? Wer von ihnen konnte noch etwas anfangen mit echten Büffeln aus Fleisch und Blut? Für die einen war der Büffel nur noch eine ehrwürdige Tradition. Für die anderen war er ein interessanter Mythos. Und die dritte Gruppe hatte sich an den Umgang mit verkleideten Kühen gewöhnt. Keiner von ihnen fühlte sich der Begegnung mit wirklichen Büffeln gewachsen. Nur die eine Familie, die parteilos geblieben war, stand auf und stellte sich dem Jungen zur Seite. Sie sprachen zu den anderen: „Feine Indianer seid ihr! Nun, da der Büffel zurückgekehrt ist, zeigt sich, dass ihr längst ohne ihn auskommt. Euer „Indianertum“ hat begonnen, ohne den Büffel zu funktionieren. Es hat aufgehört Indianertum zu sein. Denn ihr habt zwar ständig vom Büffel geredet. In Wahrheit aber habt ihr ihn durch Kühe, Mythen und Traditionen ersetzt. Ihr braucht ihn schon lange nicht mehr. Wir aber brauchen ihn, und haben ihn jetzt lange genug entbehrt.“ Mit diesen Worten verließen die letzten Indianer das Lager, um im Tal den Büffel zu jagen. Und die Jugend zog mit ihnen...
Wir kehren zu unserem Ausgangspunkt zurück. Und ich hoffe, dass sie sich noch daran erinnern: Von der Verborgenheit Gottes wollten wir reden, vom Gefühl der Ferne und Feindseligkeit, vom Schweigen Gottes, das manchmal unseren Glauben bedroht. Das ist eine Erfahrung, die nur schwer auszuhalten ist. Denn wie der Indianer auf den Büffel angewiesen ist, so sind Christen auf Gott angewiesen. Wir brauchen ihn, um zu sein, was wir sind. Wir verlieren den Boden unter den Füßen, wenn er sich entzieht. Und doch sollten wir nicht reagieren wie jene vier Parteien von Indianern: Die einen geben gleich auf, wenn Gott aus ihrem Blickfeld verschwindet. Und die anderen leugnen einfach, dass er sich verborgen hat. Die dritte Partei ersetzt Gott durch eine schlechte Kopie. Und die vierte bastelt sich einen Glauben zurecht, der auch ohne Gott funktioniert. All diese Strategien sind möglich – und sie werden in Teilen der Christenheit tatsächlich praktiziert. Doch handelt es sich so oder so ein Ausweichen vor der Prüfung, die Gott uns zumutet. Man betrügt sich selbst. Darum kann man jemandem, der in eine Glaubenskrise geraten ist, nur empfehlen, dem Beispiel jener letzten Familie zu folgen. Leugnen wir Gottes Verborgenheit nicht, aber geben wir auch den Glauben nicht auf! Versuchen wir nicht, Gottes Nähe durch irgendetwas anderes zu ersetzen, setzen wir nichts an seine Stelle, sondern ertragen wir einfach die Leere, die er uns zumutet. Halten wir seinen Platz frei. Denn wenn wir Gott entbehren, und uns dabei nicht irre machen lassen, wenn wir die Prüfung geduldig bestehen, wird er sich uns wieder zuwenden. Gott kann am Ende nicht verleugnen, dass er der barmherzige Vater Jesu Christi ist. Er verstellt sich zwar und verbirgt sich, um unser Vertrauen zu prüfen. Aber er verlässt uns nicht wirklich. Vielmehr verhält er sich wie ein Vater, der seinem Kind das Laufen beibringt: Er hilft uns auf die Beine und er stützt die ersten Schritte unseres Glaubens. Doch nach einiger Zeit will er dann sehen, wie weit wir sind. Er will sehen, ob wir auf eigenen Beinen stehen können, wenn er uns mal nicht unter die Arme greift. Er zieht sich kurz zurück. Am Ende aber lässt er uns nicht im Stich. Denn wenn wir aufhören, es zu fühlen, hört er doch nicht auf, uns zu lieben. Er kommt zurück, um zu sehen, ob wir noch auf ihn warten. Und die geduldige Bereitschaft, auf ihn zu warten, der Entschluss, ihn durch nichts zu ersetzen – das ist Glaube…