„Wahr“ sind Aussagen, die das Wirkliche korrekt abbilden, indem sie auf der Ebene der Beschreibung dem beschriebenen Sachverhalt entsprechen. Doch Wahrheit nur zu kennen, heißt noch nicht „in der Wahrheit zu sein“. Dann erst ist ein Mensch „in der Wahrheit“, wenn er der Wirklichkeit Gottes nicht bloß mit Worten und Gedanken, sondern mit seiner Person ganz und gar entspricht, so dass sein Leben insgesamt eine einzige große Entsprechung zu Gott ist. Nur dieses „Leben in der Wahrheit“ ist das „wahre Leben“ – wie wir es an Christus sehen.

Wahrheit wissen und Wahrheit sein

 

(in Anlehnung an einen Text von S. Kierkegaard) 

 

Es gibt biblische Worte, die uns so vertraut sind, dass wir schon gar nicht mehr hinhören. Denn wir kennen sie vorwärts und rückwärts und meinen, wir hätten längst verstanden, was es da zu verstehen gibt. Und wenn Jesus z.B. sagt, er sei „der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6), dann nicken wir und sagen „kenn ich schon“, „glaub‘ ich auch“, „muss ich nicht mehr drüber nachdenken“. Aber haben sie sich mal gefragt, wie denn ein Mensch „die Wahrheit“ sein kann? Macht so eine Aussage überhaupt Sinn? Jesus sagt ja nicht, dass er die Wahrheit „kennt“ oder die Wahrheit „verkündigt“, sondern dass er die Wahrheit „ist“. Er beansprucht nicht Einblick in die Wahrheit zu haben oder Wahrheit aufzudecken, Wahrheit mitzuteilen oder sie erkennen zu können, sondern Wahrheit zu „sein“. Und das ist, wenn wir den üblichen Sprachgebrauch zugrunde legen, eine ziemlich unsinnige Behauptung. Denn Menschen und Dingen sprechen wir nicht „Wahrheit“ zu, sondern „Wirklichkeit“, während wir von Gedanken oder Sätzen nicht sagen, sie seien „wirklich“, sondern sie seien „wahr“ oder „unwahr“. Nach üblichem Sprachgebrauch kann eine Person existieren oder nicht existieren, anwesend oder weg sein, aber eine Person kann ebensowenig „wahr“ wie „gelogen“ sein. Wenn Jesus aber von sich behauptet, nicht bloß „wahr“, sondern „die Wahrheit“ zu sein – was soll das dann bedeuten? Es ist doch nicht anzunehmen, dass er sich nur ungeschickt ausgedrückt hätte! Es gibt da etwas zu verstehen. Und um dem auf den Grund zu kommen, müssen wir uns zunächst klar machen, was wir gewöhnlich Wahrheit nennen: Nämlich die Übereinstimmung einer Aussage mit dem Sachverhalt, auf den sich die Aussage bezieht. Wahrheit wissen heißt denken, was tatsächlich der Fall ist. Und Wahrheit sagen heißt aussprechen, was der Fall ist. „Wahr“ sind Aussagen und Gedanken, die das Wirkliche korrekt abbilden, indem sie auf der Ebene der Beschreibung dem beschriebenen Sachverhalt entsprechen. Und in diesem Sinne hat es auch der Glaube mit Wahrheit zu tun, weil unser Bekenntnis solche Wahrheit beansprucht. Wir bekennen, dass Gott das höchstes Gut ist und das lohnendste Ziel, der eigentliche Grund allen Seins und die alleinige Quelle des Lebens. Gott ist das Maß aller Dinge und der Inbegriff dessen, was mit Hingabe erstrebt zu werden wert ist. Wer das sagt, der spricht Wahrheit. Und wenn er davon überzeugt ist, hat er Einsicht in die Wahrheit. Solche Einsicht werden wir Jesus auch ohne weiteres zubilligen. Aber Wahrheit „kennen“ – ist das schon dasselbe wie „in der Wahrheit sein“, oder gar „die Wahrheit“ sein? Das Neue Testament meint mit „Wahrheit“ offenbar mehr als nur die korrekte Information und das „Bescheidwissen“ dessen, der sich über die Tatsachen nicht irrt. Der neutestamentliche Begriff ist umfassender und greift weiter. Denn im „Kennen“ der Wahrheit stimmt ja lediglich mein Denken mit der Wahrheit überein. Und mein Denken ist nur einer von den vielen Teilen meiner Person. Es ist fraglos ein wichtiger Teil! Aber mein Denken ist nicht mein Fühlen und nicht mein Handeln. Mein Denken ist nicht mein Gewissen und nicht mein Leib. Mein Denken ist auch nicht identisch mit der Lebenserfahrung, die mein Gedächtnis speichert. Und mein Wille und mein Tun sind vom Denken manchmal schrecklich unabhängig! Was würde es also nützen, nur zu wissen, dass Gott der Hingabe wert ist, wenn ich diese Hingabe nicht lebe? Was würde es nützen, bloß zu denken, dass Gott der Maßstab des Guten ist, wenn ich nicht dementsprechend entscheide? Und was würde es nützen, Gott korrekt zu beschreiben, wenn ich zu ihm nicht in Beziehung träte? Wahrheit nur zu kennen, heißt noch nicht „in der Wahrheit zu sein“. Dann aber ist ein Mensch „in der Wahrheit“, wenn er der Wirklichkeit Gottes nicht bloß mit Worten und Gedanken, sondern mit seiner Person ganz und gar entspricht, so dass sein Leben insgesamt eine einzige große Entsprechung zu Gott ist. Der Tatsache, dass Gott das höchste Gut ist, entspricht der Mensch, indem er nichts auf der Welt wichtiger nimmt als Gott und nichts mehr erstrebt als seine Nähe. Der Tatsache, dass Gott die Quelle des Lebens ist, entspricht der Mensch, indem er, statt auf seine eigene, auf Gottes Kraft setzt und jeden Tag als sein Geschenk betrachtet. Der Tatsache, dass Gott das Maß aller Dinge ist, entspricht der Mensch, indem er sein Verständnis von Gut und Böse an Gottes heiligem Willen orientiert. Und der Tatsache, dass Gott das lohnendste Ziel ist, entspricht der Mensch, indem er hoffend, erwartend und sehnend nach Gott Ausschau hält. So ist auch „in der Wahrheit sein“ ein Verhältnis der Übereinstimmung zwischen zwei Instanzen. Während aber „Wahrheit wissen“ nur darin besteht, dass meine Gedanken mit dem übereinstimmen, was der Fall ist, erfordert „in der Wahrheit sein“ die Übereinstimmung der ganzen Person mit der Wirklichkeit Gottes. Sören Kierkegaard hat das etwa so ausgedrückt: Wahrheit ist nicht bloß jene Entsprechung von Denken und Sein, die mein Denken davor bewahrt ein Hirngespinst zu sein, sondern Wahrheit ist die Entsprechung meines Lebens zur Wirklichkeit Gottes. Und erst das ist Leben „in der Wahrheit“, wenn mein Leben im Streben nach der Wahrheit selbst zu einem Ausdruck der Wahrheit wird. Das ist wie bei einem Wanderer, der den Weg durch den Wald nicht bloß kennt, sondern seiner Kenntnis auch Ausdruck verleiht, indem er den Weg beschreitet. Der entspricht mit den Füßen der Kenntnis seines Kopfes! Und daher sagt Kierkegaard, die Wahrheit bestehe christlich verstanden nicht im „Wahrheit wissen“, sondern im „Wahrheit sein“. Wenn ich sage „Gott ist das höchste Ziel“, dann ist das „gesagte“ Wahrheit. Aber wenn ich selbst zu diesem Ziel unterwegs bin, bin ich „in der Wahrheit“. Wenn ich sage „Alles Leben kommt von Gott“, dann ist das „gesagte“ Wahrheit. Wenn mir darum aber alles Leben anfängt heilig zu sein, dann bin ich „in der Wahrheit“. Wenn ich bekenne, dass Gottes Gebote gerecht und gut sind, dann ist das „gesagte“ Wahrheit. Wenn ich aber ernsthaft darum ringe, diese Gebote zu halten, bin ich „in der Wahrheit“. Sage ich „Gott ist treu“, so ist das eine wahre Aussage. Aber wenn ich deswegen aufhöre furchtsam und misstrauisch zu sein, lebe ich „in der Wahrheit“. Denn Wahrheit ist nicht nur eine Übereinstimmung der Gedanken mit den Tatsachen, sondern eine Übereinstimmung des ganzen Menschen mit der Wirklichkeit Gottes. Und weil diese Übereinstimmung des Menschen mit Gott bei Jesus Christus vollkommen gegeben war, darum kann er von sich sagen, er „sei“ die Wahrheit. Denn alles an Jesu Leben, Denken und Tun entsprach der Wirklichkeit seines himmlischen Vaters und war Ausdruck jener lebendigen Kenntnis, die Jesus vom Willen des Vaters hat. Jesu konsequentes, liebevolles, gehorsames, hingegebenes und wahrhaftiges Leben spiegelt restlos den Willen Gottes, so dass ihn das Neue Testament als das wahre Ebenbild des Vaters bezeichnet. Der Sohn war mit dem Vater nicht bloß „einig“, sondern war jederzeit „eins“ mit ihm. Ist Jesus Christus dadurch aber „die Wahrheit“, das Urbild, Vorbild und Muster gottentsprechenden Lebens – wie könnten wir dann „in der Wahrheit sein“, ohne zugleich auch „in Christus“ zu sein? Christus ist die Wahrheit, und darum ist der Mensch, der volle Übereinstimmung mit Gott erstrebt, notwendig auch „in Christus“. Wenn aber Jesus sagt, er sei nicht nur die Wahrheit, sondern auch „der Weg“ und „das Leben“, so muss ein Mensch, der nicht bloß Wahrheit sagt, sondern in der Wahrheit ist, auch auf jenem Weg sein und an jenem Leben Anteil haben. Christus wusste nicht bloß Wahrheit, sondern war die Wahrheit. Die Ausrichtung auf Gott prägte nicht bloß sein Denken, sondern diese Ausrichtung war sein Wesen. Und dementsprechend kommt es auch bei uns, bei den Jüngern, die ihm nachfolgen, nicht allein auf das an, was unser Kopf versteht und unser Mund bekennt, sondern auf ein Leben, das in Gänze zum Ausdruck der erkannten Wahrheit wird. Mit anderen Worten: Glaube ist keine Ansicht, sondern ein Zustand, keine Meinung, sondern ein Weg. Und Informationen über Gott, die ich wie ein Schüler auswendig lerne und korrekt wiedergebe, sind darum auch noch kein Glaube. Ein Schüler, der Informationen sammelt und ein Referat über Brasilien hält, ist deswegen noch nicht mit Brasilien vertraut und wird durch sein Referat auch nicht zum Brasilianer. Und ebenso ist einer, der meint, über Gott Bescheid zu wissen, noch lange nicht mit Gott vertraut und wird durch theologische Kenntnis auch nicht zum Christen. Sondern mit einem Land wie Brasilien ist man vertraut, wenn man es im Schweiße seines Angesichtes durchwandert hat. Und mit Gott ist man vertraut, wenn man seine Hand spürt und erleidet, wenn man um seinen Segen ringt, seine Nähe entbehrt und sich seinem Urteil ergibt. Keiner kennt wirklich Gottes Wahrheit, dem diese Wahrheit nicht zum Schicksal, zur Freude und zum Schmerz geworden ist. Und das bedeutet leider auch, dass es zu dieser Wahrheit keine Abkürzung gibt, wie das bei anderen, leichter mitteilbaren Wahrheiten der Fall ist. Wenn einer das Schießpulver erfindet, das Rezept für Porzellan oder eine mathematische Formel, dann kann es sein, dass er dafür Jahrzehnte lang vergeblich forschen und experimentieren musste. Hat seine Mühe aber schließlich Erfolg, schreibt er die richtige Formel auf, gibt die Rezeptur an seine Schüler weiter, und die kommen dadurch auf einer Abkürzung zur Wahrheit. Die Schüler haben es nicht nötig, denselben mühsamen Weg zu gehen wie ihr Meister und müssen seine vergeblichen Experimente nicht wiederholen, sondern profitieren von seiner Arbeit, indem sie gleich die richtige Formel benutzen. In der Technik funktioniert das wunderbar! Im Glauben funktioniert es aber nicht, weil da jeder den Weg der Wahrheit selber gehen muss, um die Wahrheit auf rechte Weise anzueignen. Diese Aneignung geschieht nicht ohne eine tiefgreifende Wandlung und Entwicklung der Person, so dass der Besitz der Wahrheit vom Erringen der Wahrheit nicht getrennt werden kann. Und die späteren Generationen haben auch keinen Vorzug gegenüber den früheren, denn jeder von uns fängt mit dem Christ-Sein wieder vorne an und zahlt selbst das Lehrgeld das nötig ist. „Aber wieso denn?“, könnte einer sagen: „Um das Evangelium zur Kenntnis zu nehmen, reicht doch die Viertelstunde, die eine Predigt dauert! Und wenn‘s einer hört, ohne dran zu zweifeln, kennt er hinterher die Wahrheit, weil er als gegeben denkt, was auch wirklich der Fall ist!“ Doch die Wahrheit die er dann kennt, weil sie ihm in den Schoß fiel, die ist ihm deswegen noch nicht zum Besitz geworden und hat sein Leben noch nicht durchdrungen. Wohl ist die Wahrheit als Einsicht „in ihm“. Aber er ist noch nicht „in der Wahrheit“. Denn anders als beim Rezept für Schwarzpulver ist die christliche Wahrheit nicht zu trennen von dem Weg, auf dem man sie erringt. Dieser Weg wird erst zu „meinem“ Weg, wenn ich ihn tatsächlich gehe. Die Nachfolge kann keiner dem anderen abnehmen. Aber die eigene Mühe lohnt sich dann auch, weil nur das Leben „in der Wahrheit“ das „wahre Leben“ ist. Es ist das „wahre Leben“, weil darin nicht nur mein Denken übereinstimmt mit mit dem, was der Fall ist, sondern auch mein ganzer Lebensvollzug übereinstimmt mit dem, was ich denke. Das Leben „in der Wahrheit“ ist deshalb das „wahre Leben“, weil nicht nur mein Kopf die Wirklichkeit Gottes begreift, sondern dieses Begriffene mich ganz bestimmt und prägt und trägt, im Hoffen und im Tun, im Erinnern und Planen. Und das ist herrlich! Denn wenn sich in der ganzen Person abbildet und ausdrückt, was sie glaubend erkannt hat, und dies gläubige Erkennen seinerseits abbildet und ausdrückt, wie Gott tatsächlich ist, dann schwinden die inneren Widersprüche, und alles reimt sich zusammen, denn dann leben wir in Gottes Wahrheit und leben so erst wahrhaft, weil Übereinstimmung mit Gott und mit der eigenen Bestimmung das wahre Leben ist. Die Wahrheit will auf diese Weise Ereignis werden, und das Evangelium will wirken. Es genügt ihm nicht, den Hörer bloß zu informieren! Das Evangelium kommt erst zum Ziel, wenn es den Hörer in Gottes Reich einbezogen hat! Und etwas Besseres können wir uns gar nicht wünschen. Denn noch leben wir in vielen schmerzlichen Widersprüchen, weil unsere Hände nicht tun, was unser Gewissen fordert, und unsere Füße nicht den Weg beschreiten, den der Verstand für richtig hält. Wir glauben so und fühlen anders, reden oft das Rechte und tun ebenso oft das Gegenteil. Bei scheinbar klarem Verstand sind wir doch gespaltene Persönlichkeiten voller Inkonsequenz, die hier die Wahrheit vermuten, dort den Weg und noch mal ganz woanders „das wahre Leben“! Wir bringen das alles nicht zusammen. Doch im Grunde ist es einfacher als wir denken. Denn Christus ist das alles zugleich und ist es nicht bloß für sich, sondern will auch für uns Wahrheit, Weg und Leben sein. Christus teilt uns nicht bloß etwas mit, sondern teilt sich uns mit, er teilt sich mit uns und schenkt uns damit, was er ist. Er heilt unseren großen inneren Schaden – und dafür sei ihm gedankt in Ewigkeit.