Es scheint normal, dass Menschen ständig etwas begehren und auf etwas aus sind. Doch dürfen wir uns von unerfüllten Wünschen nicht beherrschen lassen. Denn (1.) währt die Freude über Erreichtes immer nur kurz. (2.) verhindert ständiges Begehren die dankbare Würdigung des Gegebenen. (3.) Bringt uns ungestilltes Begehren in Versuchung, uns das Begehrte, wenn wir‘s anders nicht haben können, auf unrechtmäßigem Wege zu verschaffen. Und (4.) verdrängt das Begehren irdischer Güter das Streben nach Gott und seinem Reich, das viel wichtiger wäre. 

Das neunte und zehnte Gebot

Du sollst nicht begehren… 

 

Vielleicht finden Sie die Feststellung trivial. Aber mir ist klar geworden, dass der wesentliche Antrieb des menschlichen Lebens in unerfüllten Wünschen liegt, und dass sie es sind, die uns motivieren und vorantreiben, weil wir doch allezeit etwas begehren, auf etwas aus sind, etwas haben, erreichen oder erleben wollen. Natürlich wechseln die unerfüllten Wünsche im Laufe des Lebens. Aber irgendeine Sehnsucht, die uns antreibt, gibt es immer. Als Kind drückt man sich am Schaufenster eines Spielwarengeschäftes die Nase platt. Und später schleicht man beim Motorrad-Händler um glänzende Maschinen herum. Dem Schüler geht das blonde Mädchen aus der Parallelklasse nicht aus dem Sinn. Und der Student will sein Fach einmal so dermaßen „drauf haben“ wie dieser oder jener Professor. Während die Kinder groß werden, träumt man vielleicht von einem langen Segeltörn in der Südsee. Und im fortgeschrittenen Alter von einem Haus am Meer. Aber dass uns gar nichts mehr lockte und reizte, ist so selten, dass mancher sagt: „Wenn ich keine unerfüllten Wünsche mehr habe, bin ich wahrscheinlich tot…“ So natürlich scheint uns der ewige Hunger des Streben, Wollen und Sehnen, dass wir immerzu hinter irgendetwas her sind, das wir erreichen oder besitzen möchten. Und stimulierende Anreize fehlen auch nie. Denn der eine Kollege hat den schöneren Posten, und der andere sieht viel besser aus als ich. Dieser ist beneidenswert gesund, und jener wird von zahlreichen Freunden umschwärmt. Einer kann wunderbar singen, und ein anderer hat so reichlich geerbt, dass er nie mehr arbeiten muss. Da spürt man dann schon ein Ungenügen im Blick auf sich selbst und will etwas ändern, um dieses auch zu haben und jenes auch zu sein. Und so läuft und strebt man sein Leben lang, wie jener Esel, dem man als Lockmittel eine Karotte vor die Nase hält. Denn es will ja keiner zurückstehen oder zu kurz kommen. 

Der Christ wird dabei allerdings von Gottes Wort unterbrochen und von dem Gebot gestört, das da lautet: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat“ (2. Mose 20,17). Da schluckt man und ist irritiert. Denn haben wir nicht gerade gesagt, unerfüllte Wünsche seien der Motor unseres Lebens? Wenn ich aber nichts „begehren“ darf, warum soll ich dann morgens überhaupt aufstehen? Warum soll ich irgend etwas tun, wenn ich nichts erstrebe, das ich erreichen will? Natürlich darf ich nicht stehlen, um das Begehrte zu bekommen – man darf’s dem anderen nicht einfach wegnehmen! Aber kann’s mich denn nicht locken? Darf man nicht mal träumen? Man sieht nicht gleich ein, wem das Begehren eigentlich schaden soll! Und doch gibt es gewichtige Gründe, ihm nicht freien Lauf zu lassen: 

1. Der erste Grund ist, dass unser lebenslanges Streben (selbst wenn es erfolgreich ist) nie zu dauerhafter Befriedigung führt. Denn die Freude über Erreichtes währt immer nur kurz. Bald tritt Gewöhnung ein, und ein neuer Kick wird nötig. Am Anfang ist man begeistert, als erstes Auto einen rostigen Renault zu fahren. Doch bald denkt man, dass man mit einem Golf glücklicher wäre. Und wenn der Nachbar dann einen BMW kauft, braucht man schon einen Porsche, um das zu toppen. So ist immer Luft nach oben, denn es gibt immer einen, der mehr „ist“, mehr „kann“ oder mehr „hat“. Der erreichte Status macht nur kurz glücklich, bevor er anfängt, uns zu langweilen. Und so kehrt nie innerer Friede ein, sondern das unruhige Begehren verschiebt sich nur auf das nächsthöhere Ziel. Erfolge sind dann wie Meerwasser, das den Durst nicht löscht, sondern anfacht. Sie wirken wie bei einem Süchtigen, der von derselben Droge bald eine höhere Dosis verlangt! Zu einer dauerhaften Sättigung kommt es aber nie. Und so sieht sich der Begehrende am Ende betrogen. Denn er hat ja für die Erfüllung seiner Wünsche ganz viel geopfert. Was er unbedingt besitzen wollte, hat ihm schon beim Erwerb große Mühe gemacht. Nach kurzem Jubel hat er sich bald daran sattgesehen. Trotzdem kosten ihn Pflege und Unterhalt viel Aufmerksamkeit. Und auf das Errungene aufpassen, muss er auch. Denn wegen der vielen Neider fürchtet er den Verlust. Und wenn er es wirklich verliert, bereitet‘s ihm auch dadurch noch mal Schmerzen. Dass dieser Moment aber kommt, steht von vornherein fest. Denn entweder verlässt mein Besitz mich (während ich lebe) oder ich verlasse meinen Besitz (wenn ich sterbe). Und hat sich‘s dafür dann gelohnt? Ach, wer Irdisches begehrt, um darin Glück und Frieden zu finden, jagt ein Phantom und statt Freiheit zu finden, verliert er sie. Denn während er dies oder das zu besitzen meint, ergreift es Besitz von ihm. Und während er zu herrschen wünscht, herrschen tatsächlich seine Wünsche über ihn.

2. Ein zweiter negativer Effekt fällt weniger ins Auge, ist aber ebenso schädlich. Denn unser ständiges Begehren verhindert die dankbare Würdigung des Gegebenen und formt dadurch einen stets unzufriedenen Charakter. Wer von unerfüllten Wünschen beherrscht wird, ist schließlich auf das fokussiert, was ihm fehlt, und nicht auf das, was er hat! Er schaut nicht auf die ihm gegönnten Gaben, sondern auf seine Defizite, und wird dadurch ein mürrischer, unleidlicher und von Neid geplagter Menschen. Im Aus-Sein auf dies und das ist er unfähig, das Gegebene mit Dank zu genießen, und bleibt so ewig unzufrieden mit der ihm von Gott gegönnten Ausstattung. „Ach“ seufzt er, „hätt‘ ich nur solche Talente wie mein Nachbar sie besitzt! Hätt‘ ich die Schönheit von diesem und die Machtbefugnisse von jenem! Wär‘ ich bloß etwas reicher und berühmter oder hätte den und den zum Freund – ja dann könnte ich glücklich sein!“ Der Moment des Glücks kommt aber nie. Und weil der Begierige immer über das nachdenkt, was ihm fehlt, fühlt er sich von seinem Schöpfer benachteiligt, der ihn nicht größer oder toller gemacht hat. Er kann nicht würdigen, was ihm geschenkt ist, und missgönnt allen anderen, was sie ihm voraushaben. Er ist wie Ton, der mit dem Töpfer streitet, weil der ihn nicht zur prunkvollen Vase geformt hat, sondern nur zu einer Kaffeetasse. Doch die Kaffeetasse vergisst dabei, was an einer Kaffeetasse gut ist. Und sie vergisst, dass der Töpfer aus dem Ton auch einen Spucknapf hätte machen können! So ist der Begehrliche Gott gegenüber sehr undankbar. Und da er über die vermeintliche Zurücksetzung verbittert ist und ständig klagt, wirkt er auch nicht gerade sympathisch. Aber mehr noch: 

3. Das ungestillte Begehren treibt ihn auch ständig in Konflikte mit den Menschen, die er beneidet. Und es bringt ihn in Versuchung, sich das Begehrte, das er anders nicht haben kann, auf unrechtmäßigem Wege zu verschaffen. Denn schließlich beginnen die meisten Sünden, bevor sie zur Tat werden, mit einem unrechten Begehren. Wer mit der Frau eines anderen Ehebruch begeht, hat sie vorher begehrt, und ohne den Impuls der Begehrlichkeit wäre es nicht zum Ehebruch gekommen. Wer seinen Nächsten bestiehlt oder betrügt, hat vorher dessen Geld begehrt, und nur weil er diesem Begehren nachgab, folgte die Tat. Überhaupt sündigen wir selten, um zu sündigen! Meist sündigen wir, weil uns ein Gut lockt, das wir begehren und um dessentwillen wir in Kauf nehmen, Unrecht zu tun. Und folglich sind es die unerfüllten Wünsche, die uns moralisch korrumpieren. Denn Ausgangspunkt der Sünde ist stets ein Gemüt, das statt seine Wünsche und Begierden zu beherrschen, von ihnen beherrscht wird. Statt den eigenen Träumen Zügel anzulegen, erkauft man ihre Erfüllung um den Preis böser Taten. Und so wird der Verstoß gegen das neunte und zehnte Gebot regelmäßig zu einer Quelle weiterer Verstöße gegen andere Gebote.   

4. Zuletzt aber (und das ist der bei weitem gravierendste Einwand) beruht das Begehren auf einer Verwechslung vorrangiger und nachrangiger Güter. Und diese Verwechslung zersetzt nicht bloß unsere Moral, sondern sie gefährdet unser Heil. Denn das Begehren irdischer Güter verdrängt das Streben nach Gott und seinem Reich, das für den Menschen langfristig viel wichtiger wäre. Dasjenige, worauf wir am meisten aus sind, gibt unserem Fühlen, Denken und Tun die Richtung vor. Denn wir fühlen die stete Sehnsucht nach dem begehrten Etwas. Wir denken unablässig darüber nach, wie wir es bekommen können. Und wir tun so ziemlich alles, um uns dem Ziel zu nähern. In Tagträumen nehmen wir die Vereinigung mit dem ersehnten Gegenstand vorweg. Das „Aus-sein-auf“ beherrscht uns also im Ganzen. Und was uns gänzlich beherrscht, das prägt unausweichlich unser Wesen und unseren Charakter. Darum sagte ein kluger Mann: wie deine Liebe, so bist du selbst. Er hat Recht damit! Denn die Liebe ist ein Band, das den Liebenden mit der geliebten Sache innerlich verknüpft und ihn mit ihr geradezu verschmelzen lässt. Wenn man das Fleischliche liebt, ist man fleischlich. Wenn man das Weltliche liebt, ist man weltlich geprägt. Und nur wenn man Gott liebt, wird man göttlich gesinnt und mit Gott vereint sein. Denn auf das, was ich begehre, blicke ich unablässig hin. Das, worauf ich fokussiert bin, füllt meine Wahrnehmung. Was ich wahrnehme, beherrscht meine Gedanken. Und schenke ich ihm entsprechend viel Zeit und Aufmerksamkeit, so erfüllt es bald mich und mein Leben! Indem ich den geliebten Gegenstand haben will, bin ich ihm hingegeben. Und diese Hingabe macht dann mein Wesen aus. Denn Jesus sagt: „Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz“ (Mt 6,21). Wenn also einer die Welt zum Schatz hat, so ist sein Herz in der Welt. Liegt sein Schatz auf der Bank, so ist sein Herz in der Bank. Und ist sein größter Schatz ein Mensch, so geht sein Herz mit diesem Menschen. Nur wenn sein Schatz Gott ist, wird sein Herz auch wirklich im Himmel sein! Denn jener Grundsatz bleibt stets in Geltung: die Kraft der Liebe vereint den Menschen mit dem, was er liebt. Und ist er damit innerlich vereint, so teilt er auch das Schicksal des geliebten Dings, weil er ja nicht anders kann, als mit seiner Liebe sich selbst zu geben. Oder hätte der Mensch noch ein höheres Gut zu verschenken als seine liebende Hingabe, die all sein Fühlen, Denken, Tun und Träumen nach sich zieht? Das innere Begehren der Liebe ist die höchste Gabe, die ein Mensch geben kann. Und diese Liebe gebührt Gott als dem höchsten Gegenstand, den wir kennen. „Deine Liebe ist dein Gott“ sagt darum Johann Gerhard, denn „Was du am höchsten liebst, das stellest du an Gottes Statt; was du am höchsten liebst, das hältst du für das Höchste“. Das höchste Wesen ist nun in Wahrheit Gott. Und so folgt, dass jeder, der etwas anderes mehr liebt als ihn, dies andere Ding an Gottes Stelle stellt und es in einen Rang erhebt, der nur Gott gebührt. Vernünftiger wär’s, auf Gott aus zu sein und zu allererst nach Gottes Reich zu trachten! Doch wo der Glaube fehlt, ist auch das Begehren des Menschen fehlgeleitet. Und so schenkt er sich mit seiner liebenden Hingabe einem Ding, das weit unter Gott steht, erhebt damit etwas Geschaffenes zu seinem Gott und gibt ihm die Ehre, die nur Gott zukommt. Denn was einer am höchsten liebt, das ist für ihn das Ziel seiner Wünsche, die Prämisse seines Denkens, der Maßstab seines Handelns und der Endpunkt seiner Wege. Von der Vereinigung mit diesem „etwas“ erwartet er Glück und Erfüllung! Und eben darum kommt unausweichlich die bittere Enttäuschung. Denn alles, was nicht Gott ist, muss mit solchen Erwartungen überfordert sein. Was nicht Gott ist, kann das tiefste Verlangen der Seele nicht befriedigen. Und so kommt die irregeleitete Seele nicht nur nicht zur Ruhe, sondern zu allem Unglück kettet sie sich auch noch mit dem Band verfehlter Liebe an einen irdischen Gegenstand, dessen Schicksal sie dann teilt. Zusammen mit dem Nichtigen, dem sie sich hingibt, verfällt sie der Nichtigkeit. Und mit dem Vergänglichen, an das sie sich bindet, muss sie vergehen. An wen oder was der Mensch sich hingibt, das bestimmt darum sein Schicksal in Zeit und Ewigkeit. Wer Irdisches zu sehr begehrt, überträgt die dem Schöpfer geschuldete Zuneigung auf etwas Geschaffenes. Das, was er mehr liebt als Gott, zieht er Gott vor. Was er Gott vorzieht, stellt er dadurch an Gottes Platz. Und Gottes Platz einem anderen zu geben, ist ein Götzendienst, der ihn letztlich das Heil kostet. Denn ein Götze gibt keinen Halt, sondern er fällt mit dem Fallenden, der sich an ihn gebunden hat. Wer bei den Kreaturen sucht, was nur Gott bieten kann, erliegt darum einer tödlichen Täuschung und sorgt selbst dafür, dass seine Sehnsucht unerfüllt bleibt. Denn der einzig unverlierbare Gewinn ist Gott selbst. Und wer etwas anderes ihm vorzieht, bringt sich damit um den Frieden, den er bei Gott haben könnte.

Eigentlich liegt das alles offen zu Tage, und wer hinschaut, dem bleibt es nicht verborgen. Dass wir‘s aber nicht bloß mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen begreifen (um uns dann nicht mehr nach diesem oder jenem zu verzehren, sondern uns nur noch mit jeder Faser nach Gott auszustrecken), das schenke er uns selbst, der unser Friede ist, unser Ursprung, unser Ziel und unser überaus großer Lohn.