Die Beziehungsmuster, die den Glauben ausmachen, werden schon in der Kindheit erlernt. Doch der Heranwachsende, der sich von den Eltern ablöst, findet nicht so leicht ein Gegenüber, das an ihre Stelle treten könnte. Er bindet sich an Werte, Autoritäten und Glücksverheißungen dieser Welt, bis er begreift, dass zwischen seiner Sehnsucht und dem Angebot der Welt ein prinzipielles Missverhältnis besteht. Erst dann steht er an der Schwelle des Glaubens, der zu den relativen Dingen nur ein relatives Verhältnis hat und zu den absoluten ein absolutes.
Wie lernt man zu glauben?
Haben sie sich schon einmal gefragt, wie man das „glauben“ erlernt? Ist es eine „Begabung“, die man in die Wiege gelegt bekommt? Kann man es „trainieren“? Kann man sich dafür „entscheiden“? Oder wird man von anderen Gläubigen sozusagen „angesteckt“? Der Schweizer Pädagoge Pestalozzi hat sich diese Frage gestellt – und hat eine interessante Antwort gegeben:
„Wie kommt es, dass ich an einen Gott glaube, dass ich mich in seine Arme werfe und mich selig fühle, wenn ich ihn liebe, wenn ich ihm vertraue, wenn ich ihm danke, wenn ich ihm folge? Das sehe ich bald. Die Gefühle der Liebe, des Vertrauens, des Dankens und die Fertigkeit des Gehorsams müssen in mir entwickelt sein, ehe ich sie auf Gott anwenden kann. Ich muss Menschen lieben, ich muss Menschen trauen, ich muss Menschen danken, ich muss Menschen gehorsamen, ehe ich mich dazu erheben kann, Gott zu lieben, Gott zu vertrauen und Gott zu gehorsamen…“
Pestalozzi behauptet, dass zwischen der Eltern-Kind-Beziehung und der Gottesbeziehung ein enger Zusammenhang besteht. Und ich vermute, dass fast jeder, der über die Entwicklung seines Glaubenslebens nachdenkt, das bestätigen kann. Denn tatsächlich wird das „Verhaltensrepertoire“, das die Gottesbeziehung des erwachsenen Menschen bestimmt, zum großen Teil außerhalb dieser Beziehung erlernt. Es bildet gewissermaßen eine „Sprache“, die wir schon beherrschen, bevor wir in die bewusste Kommunikation mit Gott eintreten. Denn die verschiedenen Möglichkeiten „In-Beziehung-zu-sein“, sind uns vertraut, bevor wir sie auf Gott anwenden. Folgende sieben Aspekte der Eltern-Kind-Beziehung scheinen mir dabei besonders wichtig zu sein:
1. Bejaht, versorgt, ernährt, geführt und erhalten werden.
2. Eine Autorität anerkennen, Weisungen annehmen, sich verantworten.
3. Erkenntnis suchen, fragen, Antwort und Deutung empfangen.
4. Vor jemand scheitern, Schuld gestehen und Vergebung erbitten.
5. Zuflucht finden und offene Arme, Geborgenheit, Schutz und Vergebung.
6. Sich an jemanden binden, für ihn einstehen, ihm gefallen wollen.
7. Jemanden entbehren und vermissen, seine Nähe ersehnen.
Man kann nur jedem Kind wünschen, dass es diese Beziehungsmuster kennen lernt und Gelegenheit hat, sie im Gegenüber zu seinen Eltern (oder anderen vertrauenswürdigen Menschen) zu erproben. Denn ohne diese Erfahrungen wird wohl niemand zu emotionaler und intellektueller Reife heranwachsen. Allerdings gilt auch, dass niemand erwachsen wird, ohne dass diese Eltern-Kind-Beziehung in die Krise gerät. Denn tatsächlich sieht das Kind in seinen Eltern ja mehr, als sie sind. In der Perspektive des Kleinkindes verfügen die Eltern über unbegrenzte Macht und unbegrenzte Mittel. Sie scheinen alles zu wissen und alles zu können. Ihre Autorität steht fraglos fest und rechtfertigt blindes Vertrauen. Sie werden als Vorbild angenommen, weil das Kind von ihren Grenzen und ihren Schwächen nichts ahnt. Es fühlt sich bei ihnen unbedingt geborgen. Und das ist natürlich gut so. Ebenso natürlich ist aber die Krise, die entsteht, wenn das Kind beginnt, seine Eltern realistischer zu sehen. Es entdeckt irgendwann, dass die Menschen, auf die es sich unbedingt verlassen hat, nur bedingt verlässlich sind. Es merkt, dass sie manche ihrer Regeln selbst nicht einhalten. Die fraglose Autorität wird damit fragwürdig. Und die großen Helfer erweisen sich in manchen Fällen als hilflos. Mit einem Wort: Die Eltern können irgendwann ihre ursprüngliche Rolle nicht mehr ausfüllen. Sie können nicht mehr die letzte Instanz in allen Fragen sein. Wer aber dann? Die von den Eltern hinterlassene Lücke kann nicht einfach leer bleiben. Sie muss neu gefüllt werden. Die vom Kind erlernten Beziehungsmuster werden darum nicht einfach aufgegeben, sondern werden auf andere „Objekte“ und „Partner“ übertragen. Welche das aber sind, das entscheidet über den künftigen Weg und das Wesen des heranwachsenden Menschen. Wessen Nähe wird er suchen, wem wird er vertrauen, welchem Maßstab wird er folgen, welche Autorität wird er respektieren? Was tritt für ihn an die Stelle, die einst die Eltern innehatten? Wird es der Ehepartner sein, der Arbeitgeber oder ein bewunderter Freund? Wird eine Ideologie zur letzten Instanz erhoben, das Urteil der „Anderen“, ein Lebenstraum, eine wissenschaftliche Lehrmeinung oder einfach nur das eigene „Ego“? Wer aus christlicher Sicht die Funktion der Eltern übernehmen sollte, ist klar: In Wahrheit kann nur Gott die Lücke füllen, die die Entzauberung der Eltern hinterlässt. Nur Gott verdient unbedingtes Vertrauen. Nur Gott ist ein wirklich verlässlicher Maßstab. Doch nur wenige Menschen erkennen das. Stattdessen binden sie sich an andere Menschen, an Güter, an Institutionen und irdische Ziele. Sie lösen sich zwar von den Eltern ab, verstricken sich aber sofort in die Welt, die ihnen geben soll, was sie ersehnen. Und sie merken dabei nicht, dass sie die Welt überfordern. Sie suchen bedingungslose Liebe – und werden von ihren Ehepartnern enttäuscht. Sie verlangen nach Wahrheit – doch die Gelehrten streiten sich. Sie wollen Sicherheit – und bauen vergeblich auf ihr Bankkonto. Sie wollen sich an Vorbildern orientieren – und fallen auf falsche Idole herein. Sie suchen echte Autoritäten – und folgen doch nur den eigenen Wünschen. Sie wollen Hoffnung – und hören nur Versprechungen. Mit anderen Worten: Der Mensch, dem die Gottesbeziehung fehlt, verstrickt sich zwangsläufig in die „Welt“, ihre Autoritäten, ihre Genüsse, ihre Versprechungen. Er sucht in der Welt, was in ihr nicht zu finden ist. Und wenn das Leben dann nicht hält, was er sich davon versprach, macht er die böse Welt oder sogar Gott dafür verantwortlich. Doch der Fehler liegt durchaus bei ihm selbst, weil er sich im Verhältnis religiöser Hingabe an Objekte hängt, die dieser Hingabe nicht wert und nicht würdig sind. In Abwandlung eines Wortes von Sören Kierkegaard könnte man sagen: Unglaube besteht darin, dass man ein absolutes Verhältnis zu relativen Dingen hat. Solcher Unglaube ist das Normalste, das man sich nur denken kann. Er ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Und doch: Wie könnte aus einem so schiefen Verhältnis Gutes erwachsen? Das ist unmöglich. Denn auch die besten Gaben Gottes (Liebe, Verstand, Schönheit, Wohlstand, Gesundheit) müssen den, der mit überzogenen Erwartungen an ihnen hängt, täuschen und enttäuschen. Was also muss geschehen, damit ein Mensch Zugang zum Glauben findet? Nun, er muss einfach begreifen, dass zwischen seiner Sehnsucht und dem begrenzten Angebot der Welt nicht bloß ein situatives, sondern ein prinzipielles Missverhältnis besteht. D.h.: Auch wenn er eines Tages (noch) erfolgreicher oder gesünder, berühmter oder mächtiger wäre, würde die Welt ihm nicht geben können, was er ersehnt. Denn in Wahrheit sucht er nicht Relatives, sondern Absolutes. Und das heißt: Sein Herz wird nicht eher zur Ruhe kommen, als bis es ruht in Gott. Wohl dem Menschen, der das eines Tages begreift. Wohl dem, den die Welt eines Tages gründlich genug ent - täuscht. Denn der beginnt klarer zu sehen. Er wird aus der falschen Bahn herausgeworfen. Und wenn ihm dann im richtigen Moment bewusst wird, dass der Glaube eine Alternative bietet, dann kommt sein bisheriges Beziehungsgefüge ins Rutschen. Er begreift, dass das Ziel seiner Sehnsucht nicht in der Welt, sondern jenseits dieser Welt liegt. Er begreift, dass der Hunger nach Gott nicht mit billigem Ersatz gestillt werden kann. Und schon hat sich der Schwerpunkt seines Seelenlebens verlagert. Denn die Gottesbeziehung steht nun plötzlich in der Mitte. Und was bisher unendlich wichtig erschien – die Karriere, die Partnerschaft, die Gesundheit und das Geld –, das alles wandert aus dem Zentrum in die Peripherie. Denn der beginnende Glaube, von dem wir hier reden, unterwirft alle irdischen Bezüge einer radikalen Kritik. Bindungen, die zuvor lebensnotwendig erschienen, werden durchtrennt und das vermeintlich Nächste rückt in die Ferne. Denn nur so wird der Mensch aus der Verfallenheit an sich selbst und an die Welt gelöst. Die Gottesbeziehung duldet neben sich keine Konkurrenz. Darum steht sie mit allen anderen Beziehungen so lange im Konflikt, bis diese aufgehoben oder der Gottesbeziehung untergeordnet sind. Dann allerdings – wenn die Gottesbeziehung allem anderen übergeordnet ist –, verneint sie die verbliebenen Beziehungen nicht, sondern verweist den Gläubigen in die irdischen Bezüge hinein, die von der Gottesbeziehung her relativiert, integriert, neu geordnet und mit neuem Sinn erfüllt werden. Der Glaube erfordert also nicht etwa den Rückzug aus der Welt. Er führt uns nicht zwingend ins Kloster, sondern er will im Beruf, in der Familie, im Alltag gelebt und bewährt werden. Das kann dann äußerlich ganz ähnlich aussehen wie das Leben ohne Glauben. Und doch ist es etwas ganz anderes. Denn nun hat der Mensch zu den relativen Dingen nur noch ein relatives Verhältnis und zu den absoluten ein absolutes. Weil das viel mit „Einsicht“ zu tun hat, kann der Weg zum Glauben tatsächlich als ein (dem Heiligen Geist zu verdankender!) Lernprozess verstanden werden. Denn „gläubig“ zu werden heißt einfach nur, die irrtümlich an die Welt und mein Ego geknüpften Beziehungen (des Hoffens, des Sich-mühens und Strebens, des Sich-messens und Sich-beurteilens, des Sich-fürchtens, des Sich-aufmerksam-hinwendens) abzulösen – und sie auf Gott zu übertragen, als auf den Einen, der dieses Hoffens, Fürchtens und Vertrauens wert ist. Ergibt sich daraus so etwas wie eine Definition des Glaubens, die wir unseren weiteren Überlegungen zugrunde legen können? Ja: Glaube ist die Teilhabe an fremder Festigkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit, die der Mensch gewinnt, wenn er solche Festigkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit weder in sich selbst aufzurichten (A) noch in der Welt zu finden versucht (B), sondern sie sich von Gott mitteilen und zusprechen lässt (C). Schenken muss Gott uns allerdings nicht nur jene Teilhabe, sondern auch die Empfänglichkeit dafür. Denn die stellt sich erst ein, wenn Gott uns die Optionen (A) und (B) aus der Hand geschlagen und uns (C) als Ausweg vor Augen gestellt hat. Der Glaube ist demnach Gottes Werk am Menschen, durch das er diesen Menschen zu sich in Beziehung setzt, oder – genauer gesagt: Ihn von einer unbewussten, unstimmigen Beziehung in eine bewusste und stimmige Gottesbeziehung überführt.