HEILIGKEIT GOTTES

 

„Lenken wir den Blick nicht über die Erde hinaus, so sind wir mit der eigenen Gerechtigkeit, Weisheit und Tugend reichlich zufrieden und schmeicheln uns mächtig – es fehlte, dass wir uns für Halbgötter hielten! Aber wenn wir einmal anfangen, unsere Gedanken auf Gott emporzurichten, wenn wir bedenken, was er für ein Gott sei, wenn wir die strenge Vollkommenheit seiner Gerechtigkeit, Weisheit und Tugend erwägen, der wir doch gleichförmig sein sollten – so wird uns das, was uns zuvor unter dem trügerischen Gewand der Gerechtigkeit anglänzte, zur fürchterlichsten Ungerechtigkeit; was uns als Weisheit wundersam Eindruck machte, wird grausig als schlimmste Narrheit offenbar, was die Maske der Tugend an sich trug, wird als jämmerlichste Untüchtigkeit erfunden! So wenig kann vor Gottes Reinheit bestehen, was unter uns noch das Vollkommenste zu sein schien. Daher kommt es, dass nach vielfach wiederholten Berichten der Schrift die Heiligen von Furcht und Entsetzen durchrüttelt und zu Boden geworfen wurden, sooft ihnen Gottes Gegenwart widerfuhr. Menschen, die zuvor, ohne seine Gegenwart, sicher und stark dastanden – jetzt, da er seine Majestät offenbart, sehen wir sie derart in Schrecken und Entsetzen gejagt, dass sie geradezu in Todesangst niederfallen, ja vor Schrecken vergehen und fast zunichte werden! Daran merken wir, dass den Menschen erst dann die Erkenntnis seiner Niedrigkeit recht ergreift, wenn er sich an Gottes Majestät gemessen hat. Beispiele solcher Erschütterung haben wir im Richterbuche wie auch bei den Propheten. Es ging soweit, dass im Volke Gottes die Redewendung in Gebrauch kam: „Wir müssen sterben; denn wir haben den Herrn gesehen“ (Ri. 13,22; Jes. 6,5; Ez. 1,28; u.a.). Und wenn das Buch Hiob (z. B. Kap. 38ff.) den Menschen durch das Bewusstsein seiner Torheit, Ohnmacht und Beflecktheit zu Boden werfen will, so dienen ihm stets die Beschreibungen von Gottes Weisheit, Kraft und Reinheit zum Beweise. Das ist berechtigt: wir sehen, wie auch Abraham, nachdem er einmal von nahem des Herrn Herrlichkeit erschaut hat, um so besser erkennt, dass er „Erde und Asche“ ist (Gen. 18,27). Elia vermag sein Nahen nicht mit unverdecktem Antlitz zu ertragen (1. Kön. 19,13). Solcher Schrecken liegt in seinem Anblick! Was soll auch der Mensch tun, der doch Staub ist und ein Wurm, wenn selbst die Cherubim in heiliger Scheu ihr Angesicht verhüllen müssen! (Jes. 6,2). Eben dies spricht Jesaja aus: „Der Mond wird sich schämen und die Sonne mit Schanden bestehen, wenn der Herr der Heerscharen König sein wird“ (Jes. 24,23). Das heißt: wenn er seine Herrlichkeit in voller Nähe offenbaren wird, dann versinkt auch das sonst Leuchtendste in Finsternis.“ (Johannes Calvin)