Das Gesetz stellt fest, dass der Mensch dem guten Willen Gottes zu entsprechen hat und anderenfalls mit Strafe rechnen muss. Das Evangelium hingegen lädt den Sünder ein, vor dem verdienten Gericht zu Jesus Christus zu fliehen, der mit offenen Armen bereit steht, um ihm seine Schuld abzunehmen. „In jeder Predigt müssen beide Lehren vorkommen. Wenn eine von beiden fehlt, so ist die andre falsch.“ Denn: „Ohne das Gesetz verstehen wir das Evangelium nicht und ohne das Evangelium hilft uns das Gesetz nichts.“ (C. F. W. Walther)

Gesetz und Evangelium unterscheiden

 

FROHBOTSCHAFT ODER DROHBOTSCHAFT? 

 

Wenn sich ein Prediger heute erlaubt, seinen Hörern mit Ernst und Strenge ins Gewissen zu reden, löst das Irritationen aus. Und es dauert nicht lange bis man ihm entgegenhält, das Wort Gottes sei doch eine „Frohbotschaft“ und keine „Drohbotschaft“. Die Empörten, die sich dieser Phrase so gern bedienen, tragen sie im Brustton der Überzeugung vor – als wäre kein Zweifel möglich. Aber stimmt es denn? Ist das Wort Gottes nur “Frohbotschaft“? Ist es nicht auch „Drohbotschaft“? Selbst bei oberflächlicher Lektüre der Bibel kann niemandem entgehen, dass da neben den Verheißungen des Heils für die Gläubigen ebenso viele Ankündigungen des Gerichts für die verstockten Sünder stehen. Neben Gottes Gnade spielt auch sein Zorn eine große Rolle! Wenn es die Bibel aber für nötig hält beides zu sagen – mit welchem Recht fordert man dann von Predigern, nur die „Frohbotschaft“ auszulegen und die „Drohbotschaft“ wegzulassen? Nur ein schlechter Prediger könnte sich darauf einlassen, Gottes Wort in dieser Weise zu verkürzen! Will er aber beides predigen, weil die Bibel schließlich beides enthält, muss er sich über das Verhältnis beider Botschaften klar werden. Und das geschieht in der Theologie traditionell unter der Überschrift „Gesetz und Evangelium“. 

Um es in ein Bild zu bringen: das Wort Gottes entspricht einem Arzt, der seinen Patienten untersucht und anschließend sagt: „Ich habe eine schlechte und eine gute Nachricht für sie. Die schlechte Nachricht ist: sie leiden unter einer schweren Krankheit, die ohne Behandlung unweigerlich zu einem qualvollen Tod führen wird. Und die gute Nachricht ist: es gibt eine Behandlungsmethode, die zwar radikal ist und bittere Pillen einschließt, die ihnen aber vollständige Heilung garantiert.“ 

Der schlechten Nachricht entspricht das in Gottes Wort enthaltene „Gesetz“. Der guten Nachricht entspricht das darin enthaltene „Evangelium“. Und das Beispiel des Arztes zeigt auch gleich, warum man nicht eins von beiden weglassen kann. Denn beschränkte sich der Arzt auf die schlechte Nachricht und verschwiege die gute, stürzte er seinen Patienten damit in tiefste Verzweiflung, ohne ihm den Ausweg zu zeigen: der Mann würde vielleicht heimgehen und sich aufhängen! Beschränkte sich der Arzt aber auf die gute Nachricht und verschwiege die schlechte, sähe der Patient keinen Grund sich behandeln zu lassen. Er würde sich für gesund halten, würde die bitteren Pillen darum nicht nehmen – und an seiner Krankheit sterben. In beiden Fällen hätte die „halbe Wahrheit“ den Tod des Patienten zur Folge! Und so wäre es auch, wenn ein Prediger entweder die „Drohbotschaft“ oder die „Frohbotschaft“ der Bibel unterschlagen wollte. Denn das Gesetz allein würde den Menschen in ausweglose Verzweiflung treiben. Und das Evangelium allein würde ihn in falscher Sicherheit wiegen. Beides ist nötig, um sowohl das Problem als auch die Lösung aufzuzeigen. Beides ist biblisch und beides muss gepredigt werden – das aber möglichst nicht in unklarem Nebeneinander, so dass Problem und Lösung verwechselt werden können, sondern so, dass man beide Botschaften klar unterscheidet und in Beziehung setzt. Was ist also Gesetz und was Evangelium? 

Das Gesetz stellt fest und macht bekannt, dass der Mensch in seinem Denken, Reden und Tun dem guten Willen Gottes zu entsprechen hat, dass er diesen Gehorsam seinem Schöpfer schuldig ist und mit Strafe rechnen muss, wenn er die berechtigte Erwartung nicht erfüllt. Mit anderen Worten: Das Gesetz ist „die von Gott gegebene Lehre, welche vorschreibt, wie wir beschaffen sein, was wir tun und unterlassen sollen, und einen vollkommenen Gehorsam gegen Gott verlangt, und verkündigt, dass Gott denen, welche den vollkommenen Gehorsam nicht leisten, zürne und sie mit dem ewigen Tode bestrafe.“ (L. Hutter). 

Das Evangelium hingegen lädt jeden Sünder ein, vor dem verdienten Gericht zu Jesus Christus zu fliehen, der mit offenen Armen bereit steht, um ihm seine Schuld abzunehmen und ihm im Austausch dafür Gerechtigkeit zuzusprechen, wenn er sich nur im Glauben solche Gnade gefallen lässt. Das Evangelium ist also „eine solche Lehre, die da lehret, was der Mensch glauben soll, der das Gesetz nicht gehalten und durch dasselbige verdammt, nämlich, dass Christus alle Sünde gebüßt und bezahlet, und ihm ohne allen seinen Verdienst erlanget und erworben habe Vergebung der Sünden, Gerechtigkeit, die für Gott gilt, und das ewige Leben.“ (Ph. Melanchthon). 

Offenkundig sind Gesetz und Evangelium sehr verschiedene Botschaften. Die eine ist bestürzend schlecht, die andere überaus gut. Doch gerade dadurch sind sie sinnvoll aufeinander bezogen. Denn man kann das Gesetz nicht hören, ohne sofort nach einer Lösung zu fragen, die aus solcher Not hilft. Und man kann das Evangelium nicht hören, ohne sofort nach der Not zu fragen, aus der das Evangelium rettet. C. F. W. Walther sagt sehr treffend: „Ohne das Gesetz verstehen wir das Evangelium nicht und ohne das Evangelium hilft uns das Gesetz nichts.“ Das scheint völlig klar zu sein. Und doch halten sich hartnäckige Missverständnisse, von denen ich zwei benennen will. 

 

ALTES UND NEUES TESTAMENT? 

 

Zunächst einmal ist es falsch, das Gesetz mit dem Alten Testament und das Evangelium mit dem Neuen Testament gleichzusetzen. Denn in beiden Teilen der Bibel tritt uns ganz derselbe Gott gegenüber, der in beiden Teilen sowohl streng als auch barmherzig verfährt. Da gibt es nicht einerseits die „Gesetzesreligion“ des Alten Testamentes und andererseits die „Gnadenreligion“ des Neuen Testamentes, sondern in beiden Testamenten gilt beides mit gleichem Ernst. Der alte Bund zeugt schon ausführlich von Gottes großer Liebe und Gnade. Und der neue Bund wird nicht geschlossen, um Gottes Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen. Gesetz und Evangelium gehören also nicht verschiedenen „Epochen“ an, von denen eine die andere „ablöst“, sondern wie Gott selbst unwandelbar und ewig ist, ist es auch sein strenger Wille im Gesetz und sein barmherziger Wille im Evangelium. Das Kommen Jesus Christi ersetzt nicht etwa das eine durch das andere, sondern offenbart beides in bis dahin ungeahnter Klarheit! 

 

„FRÜHER“ UND „JETZT“? 

 

Entsprechendes ist aber auch von der Biographie des einzelnen Menschen zu sagen. Denn Gesetz und Evangelium lassen sich nicht auf zwei Lebensphasen verteilen, von denen der Christ die erste schon hinter sich hätte. Wer diesem Irrtum anhängt meint, er sei zwar als Sünder unter dem Gesetz geboren, sei aber nun als Christ von aller Sünde und allem Gesetz frei geworden, so dass ihn heute nur noch das Evangelium anginge – und das Gesetz gar nicht mehr. Dieser Irrtum liegt nahe, da sich zwischen der vorgläubigen und der gläubigen Existenz ein großer Wandel vollzieht. Doch muss man genau hinsehen, worin der besteht. Das Evangelium befreit den Gläubigen vom Fluch des Gesetzes, es hebt aber die Geltung desselben keineswegs auf. Die Sünde kann den nicht mehr verdammen, der in Christus ist, er hört deswegen aber nicht auf Sünder zu sein. Vielmehr ist ein Christ ein „Gerechter“ und ein „Sünder“ zugleich. Er ist das erste im Blick auf die „fremde“ Gerechtigkeit Christi, die ihm von Gott zugesprochen und zugerechnet wird. Er ist aber das zweite in Blick auf seine „eigene“, alltäglich gelebte Gerechtigkeit, die zeitlebens ein Fragment bleibt. Durch seinen Glauben ist der Christ eine neue Kreatur. Doch bis ins Grab trägt er noch Reste des „alten Adams“ mit sich herum. Und deshalb muss er den Weg der Buße nicht bloß einmal im Leben gehen, sondern immer wieder. Der Christ ist durch seinen Glauben erlöst, erläge aber einer gefährlichen Illusion, wenn er sich deswegen schon für „vollendet“ hielte und meinte, er habe die Sünde und den Konflikt mit Gottes Gesetz restlos hinter sich gelassen! Gesetz und Evangelium sind darum weder (heilsgeschichtlich) auf Altes und Neues Testament zu verteilen noch (biografisch) auf „einst“ und „jetzt“. Sie lösen einander nicht ab, wie eine Epoche die andere. Wodurch unterscheiden sie sich aber dann? 

 

DIE FORM DER KUNDGABE 

 

Der erste gravierende Unterschied besteht in der Form der Mitteilung. Denn da alle Menschen ein Gewissen haben, ist ihnen eine Kenntnis des Gesetzes „ins Herz geschrieben“ (Röm 2,14-15). Und wenn sie die Schöpfung mit offenen Augen betrachten, zeugt auch die vom Schöpfer und seinen guten Ordnungen (Röm 1,18-21). Selbst wenn einer von den Zehn Geboten nie gehört hätte, könnte ihm die Vernunft erschließen, dass er nicht töten, lügen und stehlen soll, weil das die menschliche Gemeinschaft zerstört, auf die er angewiesen ist. Und so ist es nicht verwunderlich, dass – ganz unabhängig von biblischer Offenbarung – alle Kulturen Gut und Böse unterscheiden, darin etwas von Gottes Gesetz „ahnen“ und auch den Zusammenhang von Schuld und Strafe kennen. 

Das Evangelium ist demgegenüber völlig anderer Art, weil es menschlicher Vernunft unerschwinglich bleibt und weder aus der Natur noch aus der Geschichte abgeleitet werden kann. Niemand würde davon wissen, wenn das Evangelium nicht in Christi Leben, Sterben und Auferstehen offenbart und durch seine Jünger weitergesagt worden wäre. Denn dass Gott in Menschengestalt selbst den Kopf hinhält, um sich den Fluch aufzuladen, der auf seinen Geschöpfen liegt – wer hätte dergleichen erdenken können, wer wäre auf diese Idee gekommen oder hätte sie aus Vernunftgründen erschlossen? Bis heute ist das Wort vom Kreuz den Weisen der Welt eine Torheit. Es bleibt allezeit „unglaublich“! Denn für die Notwendigkeit des Gesetzes fallen uns viele plausible Gründe ein, während das Evangelium in nichts weiter gründet als in dem grundlosen Erbarmen Gottes! 

 

DER FOKUS DER KUNDGABE 

 

Gesetz und Evangelium sind auch darin verschieden, dass sie die Aufmerksamkeit des Hörers auf ganz verschiedene Gegenstände lenken. Das Gesetz schärft ein, wie der Mensch sein, was er denken, sagen und tun soll. Es leitet den Hörer damit zur kritischen Selbstbetrachtung an und behaftet ihn bei seinem So-Sein. Das Evangelium dagegen lenkt den Blick ganz auf Jesus Christus und sein Tun für uns. Es durchbricht damit das sorgenvolle Kreisen um uns selbst, öffnet die Gedanken und zieht alle Aufmerksamkeit zu Christus hin. Das Gesetz erwartet vom Menschen jene „eigene“, selbst vollbrachte Gerechtigkeit, die er seinem Schöpfer notorisch schuldig bleibt. Das Evangelium hingegen schenkt ihm die „fremde“ Gerechtigkeit, die ganz von außen kommt, weil sie eigentlich Christi Gerechtigkeit ist. Das Gesetz fördert eine entweder stolze oder betrübte Selbstbeobachtung – es behaftet den Menschen bei dem, was sich in seinem Denken und Tun manifestiert. Das Evangelium hingegen reißt den Menschen von sich selbst weg und gründet ihn „extern“ in Jesus Christus auf ein neues und viel besseres Fundament. Das Gesetz ist Forderung und Anklage, das Evangelium aber Einladung und Verheißung. Das Gesetz verlangt tausend Dinge, das Evangelium hingegen verlangt gar nichts als nur die leeren Hände, die sich von Gott beschenken lassen. Dem Gesetz wird man durch angestrengte Aktivität gerecht, dem Evangelium aber gerade durch die Passivität, die Christus in alldem gewähren lässt, was er für uns und an uns tun will. Während das Gesetz aufdeckt, welchen Gehorsam der Mensch schuldig bleibt, verweist das Evangelium auf den stellvertretenden Gehorsam, den Christus übt. Hier zählt mein eigenes Tun – dort aber allein Gottes Tun für mich…

 

DIE WIRKUNG DER KUNDGABE 

 

Natürlich ergeben sich aus der unterschiedlichen Fokussierung auch gegensätzliche Wirkungen. Das Gesetz ist zwar nicht von vornherein tödlich – als guter Wille Gottes verheißt es „guten“ Menschen durchaus den Lohn der Seligkeit. Doch klingt das in den Ohren des Sünders wie Spott und Hohn, weil der nun mal kein „guter Menschen“ ist, und sich selbst auch nicht dazu machen kann. Das Gesetz würde ihn nicht bedrohen, wenn er es „tun“ und ihm dadurch genügen könnte. Da er’s aber nicht kann, lässt ihm das Gesetz keinen Ausweg und gibt ihm auch keinerlei Kraft, sondern wird ihm als Rechtsgrundlage seiner Anklage und Verurteilung zum Verhängnis und zum Stolperstein. Für Sünder hat das Gesetz keine Verheißung, außer dass sie bekommen, was sie verdienen. Und mit diesem Wissen kann man nicht leben, sondern daran kann man nur zugrunde gehen. Denn je klarer das Gesetz einen Sünder überführt, desto mehr wird er das Gesetz hassen. Und je mehr er den guten Willen Gottes hasst, umso schuldiger wird er. Das Gesetz schafft ihm genau darüber völlige Klarheit! Einen Ausweg zeigt es aber nicht. Und so könnten die Wirkungen von Gesetz und Evangelium kaum gegensätzlicher sein. 

Denn das Evangelium durchbricht die (vom Menschen her) unauflösliche Misere, es führt den Sünder zu Christus, nimmt den Fluch von ihm, zieht seinen Hals aus der Schlinge und verlangt dafür rein gar nichts als nur, dass er sich diese Wohltat gefallen lässt. Das Evangelium fordert nichts, als dass der Schuldige seine Schuld einsieht und seine Begnadigung annimmt – und selbst der Heilige Geist, der diese Bereitschaft im Menschen wirkt, ist ein Geschenk! Selbst der Glaube, der das Evangelium glaubt, ist kein Werk des Menschen, sondern Gottes Werk im Menschen! Der Sünder steuert also zu seiner geistlichen Erweckung ebensowenig bei wie ein Toter zu seiner Auferstehung! Gottes unwiderstehliche Gnade tut dabei alles, der Sünder gar nichts. Wird ihm das aber bewusst – wie sollte er darüber nicht jubeln? Das Evangelium macht aus verzagten Sündern fröhliche Kandidaten des Himmelreiches, schenkt ihnen christliche Freiheit und unverwüstliche Zuversicht. Denn jene Last, die sie selbst weder tragen noch abwerfen konnten, hat Christus ihnen ein für allemal von den Schultern genommen. So hat das Gesetz die Aufgabe, die Unbußfertigen mit Gottes Zorn und Ungnade zu schrecken, indem es auf die Werke dringt. Das Evangelium hingegen will den betrübten Gewissen Vergebung der Sünden schenken und gebietet ihnen dazu nichts als nur, die dargebotene Gnade anzunehmen. Das Gesetz richtet nur Zorn an (Röm 4,15), das Evangelium hingegen ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben (Röm 1,16). 

 

DIE ADRESSATEN DER KUNDGABE 

 

Wer aber ist gemeint? Wen betrifft es? Grundsätzlich ist Gottes Wort als Drohbotschaft und Frohbotschaft allen Menschen zu predigen, weil es keinen gibt, den das eine oder das andere nichts anginge. Alle Menschen stehen unter der Forderung des Gesetzes und allen wird durch das Evangelium das Heil angeboten. Aber nicht allen Menschen sind beide Botschaften gleichermaßen bewusst. Und dadurch wird die Aufgabe der Verkündigung kompliziert. Denn manch einer kennt nur das strenge Gesetz, quält sich dementsprechend mit Selbstvorwürfen und ist aus Angst vor dem Gericht am Boden zerstört. Ein anderer aber kennt nur das Evangelium von jenem Gott, der so gerne vergibt – und weil er sonst nichts weiß, wiegt es ihn in falscher Sicherheit, so dass er seinen falschen Weg sorglos immer weiter geht. Dem ersten würde es gar nichts helfen, wenn man ihm noch mehr Gesetz vorhielte, denn das kennt er ja zur Genüge und ist längst daran verzweifelt. Dem zweiten aber würde man mit noch mehr Evangelium eher schaden als nützen, weil er sich sowieso schon „o.k.“ findet und meint, keiner Gnade zu bedürfen. Ein guter Seelsorger sagt darum nicht allen das Gleiche, sondern jedem das, was er in seiner aktuellen Lage nötig hat, um im Glauben voranzukommen. 

Wer des Gesetzes wegen am Boden liegt und verzweifelt ist, muss umgehend durch das Evangelium aufgerichtet werden, denn ein Sünder in seiner Not ist genau der richtige Adressat für den Trost des Evangeliums. Wer aber die Nase hoch trägt und in falscher Sicherheit mit Gottes Geboten Scherze treibt, dem ist nicht anders zu helfen als mit einer kräftigen Dosis des Gesetzes. Solang sich einer in seiner Sünde noch relativ wohl und behaglich fühlt, ist ihm keinesfalls Evangelium zu predigen, sondern Gesetz. Ist er aber ehrlich erschrocken auf der Suche nach Trost, ist ihm kein bisschen Gesetz, sondern reines Evangelium zu predigen. Das Ziel muss sein, dass ein Christ beide biblischen Botschaften gleichermaßen kennt und ernst nimmt – und durch das Zusammenspiel beider im Glauben erhalten und gefördert wird. Denn Gesetz und Evangelium sind wie der Plus- und der Minus-Pol, zwischen denen der Strom des Glaubens fließt. 

In der Seelsorge ist es weniger schwer, dem gerecht zu werden, weil man jeweils nur einen Menschen vor sich hat und sich auf ihn einstellen kann. Wenn im Gottesdienst aber viele zusammenkommen, von denen einige gerade nur Gesetz, und andere nur Evangelium bräuchten, kann der Prediger dem nur entsprechen, indem er dem Rat C. F. W. Walthers folgend beides sagt und klar ins Verhältnis setzt: „In jeder Predigt müssen beide Lehren vorkommen. Wenn eine von beiden fehlt, so ist die andre falsch. Denn das ist eine falsche Predigt, die nicht alles gibt, was zur Seligkeit gehört.“ 

 

UND DIE VERKÜNDIGUNG HEUTE? 

 

Was oben beschrieben wurde, ist jedem evangelischen Theologen geläufig, denn die Reformatoren haben es völlig klar erkannt und dargelegt. Aber – folgt man ihren Einsichten? Leider ist festzustellen, dass die öffentliche Predigt der evangelischen Kirche momentan weit davon entfernt ist, Gesetz und Evangelium in der beschriebenen Weise zu verkündigen. Wohl erinnert man sich der schrecklichen Einseitigkeit des mittelalterlichen Katholizismus, der unter vielen Drohbotschaften die Frohbotschaft fast ganz begraben hatte. Doch ist man inzwischen in den gegen-teiligen Fehler verfallen und verschweigt das Gesetz, um damit umso „evangelischer“ zu erscheinen. Es wird auf den Kanzeln zwar zur Genüge moralisiert. Doch Sünde, Gericht und Verdammnis kommen kaum vor. Und es kann nicht verwundern, dass die verbleibende, einseitige und falsche Botschaft (dass Gott vor lauter grenzenloser Liebe allen unbedingt alles vergeben wolle) auf gähnendes Desinteresse stößt. Denn wenn der Arzt die Diagnose verschweigt – warum soll sich der Patient dann für die Behandlung interessieren? Wer sich für gesund hält, wird die bitteren Pillen dankend ablehnen. Und er wird auch nicht verstehen, warum der Arzt ihm Kuren verordnen will, die ein Gesunder gar nicht nötig hat. Solch ein Arzt ist natürlich lächerlich und überflüssig. Doch was schlimmer ist: er wird an seinem Patienten schuldig. Denn der ist ja wirklich todkrank – und ahnt es nicht. Der Arzt, der ihm den Ernst seiner Lage verschweigt, bringt ihn damit um die Chance der Behandlung und Heilung! Und das heißt: wenn Kirche den Menschen nicht ganz klar sagt, dass sie Erlösung nötig haben, ist Kirche schuld, wenn sie verloren gehen. Sie unterschlägt dann die erste Hälfte von Gottes Wort, ohne die die zweite Hälfte nicht verstanden werden kann. Obwohl es ihr aufgetragen ist, warnt sie nicht vor dem Gericht – und verfällt damit selbst dem Gericht. Denn Gott spricht: 

 

„Wenn ich dem Gottlosen sage: Du musst des Todes sterben!, und du warnst ihn nicht und sagst es ihm nicht, um den Gottlosen vor seinem gottlosen Wege zu warnen, damit er am Leben bleibe, – so wird der Gottlose um seiner Sünde willen sterben, aber sein Blut will ich von deiner Hand fordern. Wenn du aber den Gottlosen warnst und er sich nicht bekehrt von seinem gottlosen Wesen und Wege, so wird er um seiner Sünde willen sterben, aber du hast dein Leben errettet.“ (Hes 3,18-19)