Gottes Gesetz ist die „Hausordnung“, die der Schöpfer seiner Schöpfung gegeben hat. Ihre Notwendigkeit und Güte müsste eigentlich jeder einsehen. Für uns Sünder allerdings, die wir das geforderte Gute nicht vorbehaltlos bejahen, wird das Gesetz zur Bedrohung, weil es unser Versagen schonungslos aufdeckt. Die Einsicht in das eigene Versagen ist aber in Wahrheit ein Gewinn: Das Gesetz zwingt uns dadurch, nicht auf die eigene Moralität, sondern auf die Gnade Gottes zu vertrauen.
Leben wir nicht danach?
Es ist schon eine Weile her, da hatte ich einen Besuch zu machen und kam dabei ins Gespräch mit einem rüstigen Rentner. Der lebte in geordneten Verhältnissen, in einem hübschen Haus mit einem gepflegten Vorgarten, und erzählte mir von seinem Lebenslauf, der ebenso ordentlich und vorzeigbar schien wie der Garten und das Wohnzimmer. Der Mann war stolz auf seine funktionierende Ehe und auf seine beruflichen Verdienste. Er ließ durchblicken, dass er mit Klugheit und Courage schon allerhand durchgefochten hat. Und ich glaubte ihm das gern, denn er war nicht auf den Mund gefallen. Als wir aber später auf kirchliche Dinge zu sprechen kamen – auf Gottesdienst und Bibel, Gemeinschaft und Glaube – da zeigte sich der Mann ziemlich desinteressiert, wischte das alles mit einer Handbewegung beiseite und sagte: „Ach, Herr Pfarrer, ich brauche das nicht, denn ich lebe ja nach den Zehn Geboten. Und das ist schließlich die Hauptsache.“ Sie können sich vorstellen, dass mich dieser Satz irritierte. Ich kenne nämlich kein einziges Gebot, mit dem ich nicht im Konflikt wäre. Und da saß einer vor mir, der wirklich meinte, alle Zehn Gebote zu halten! Auf meine erstaunte Nachfrage gestand der Mann zwar, dass auch ihm manchmal moralische Pannen unterliefen – das sei ja nur menschlich, er sei auch nicht vollkommen. Im Großen und Ganzen blieb er aber bei seiner Ansicht, dass er sich nichts Schwerwiegendes vorzuwerfen habe, und dass darum auch sein Verhältnis zu Gott völlig in Ordnung sei. Er meinte wohl wirklich, das Gemeindeleben und der Gottesdienst seien für Menschen bestimmt, die Belehrung, Trost und Vergebung nötiger hätten als er. Als ich aber nach einer Weile gehen musste und den Mann mit dem geordneten Leben durch seinen geordneten Vorgarten verließ, da war mir klar geworden, dass er stellvertretend gesprochen hatte für viele Menschen, die tatsächlich meinen, sie wären weitgehend „in Ordnung“. Tief drinnen sind sie überzeugt, der „liebe Gott“ könne mit ihnen zufrieden sein. Und ich fürchte, genau darum bekommen sie keinen echten Bezug zum Glauben und verstehen auch nicht, was Christen in der Passionszeit beschäftigt. Denn wenn sich einer „in Ordnung“ findet – was soll der mit dieser merkwürdigen Botschaft anfangen, Jesus habe die Last seiner Strafe am Kreuz getragen? Wer sich der Erlösung nicht bedürftig fühlt, weiß sie auch nicht zu schätzen. Vielmehr schaut er mit Unverständnis auf den Gekreuzigten, schüttelt den Kopf und sagt: „Tja, also für mich hätte er nicht sterben müssen…“ Und woran liegt’s? Ich meine, ein wesentlicher Grund dürfte sein, dass die Menschen eine allzu harmlose Vorstellung von den Zehn Geboten haben – und sie in ihrer tatsächlichen Tragweite nicht verstehen. Denn, bitte, was heißt denn „Du sollst nicht töten“? Das schließt doch viel mehr ein, als bloß, dass ich nicht morden darf. Es schließt mit ein, dass ich meinem Nächsten versöhnlich und friedfertig begegnen und, soviel ich vermag, Gefahren und Übel von ihm abwenden soll. Auch im Verborgenen soll ich keine Hass– und Rachegedanken gegen meinen Feind hegen, soll ihm böse Worte nicht mit bösen Worten vergelten, sondern soll ihn lieben, wie mich selbst, soll ihn schützen, wo er an Leib und Leben bedroht ist, und soll ihm helfen, wo ich kann. So lange ich das aber nicht tue, ist auch dem 5. Gebot nicht Genüge getan! Und was heißt „Du sollst nicht ehebrechen“? Manch einer scheint zu glauben, er erfüllte diese Forderung schon, wenn er nicht fremdgeht. Doch in Wahrheit geht’s ja nicht darum, sich einen Seitensprung zu verkneifen, sondern es geht darum, die verkehrte Lust zu überwinden – und mit ihr alle unreinen Gedanken. Wir sollen die eheliche Treue nicht gezwungenermaßen bewahren, sondern freudig, sollen unseren Leib zu einem Tempel des Heiligen Geistes machen, sollen unseren Partner von Herzen lieben, seine Fehler mit Geduld tragen und seine Fürsorge dankbar erwidern. So lange wir das aber nicht tun, kann keine Rede davon sein, wir hielten das 6. Gebot! Wollen wir’s da vielleicht mit etwas Einfacherem versuchen – und das zweite Gebot betrachten? „Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen“ Das besagt anscheinend nur, dass ich von Gott nicht leichtfertig oder lästerlich reden soll. Und das trauen wir uns zu. Doch mit der bloßen Unterlassung ist es auch hier nicht getan, denn tatsächlich meint dieses Gebot, dass ich Gott Ehrfurcht erweisen soll. Ich soll für die Ehre seines Namens eintreten gegenüber Spott und Unglauben, ich soll den Namen Gottes im Gebet anrufen, um ihn zu bitten und um ihm zu danken, ich soll auch nicht faul darin sein, das Gespräch mit ihm zu suchen, und soll mich öffentlich zu Gott bekennen. So lange ich das aber nicht tue, und dem Namen Gottes nicht Ehre mache durch mein ganzes Leben, habe ich auch dem 2. Gebot nicht Genüge getan! Wollen wir da lieber unser Glück versuchen mit dem achten Gebot: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“? Vielleicht hoffen wir ja hier zu bestehen, weil wir gewöhnlich keine Lügen erzählen. Aber heißt das denn schon, dass wir unsere Zunge im Zaum hätten? Haben wir nie jemand Böses nachgeredet und Klatsch weitergetragen? Haben wir immer erst zugehört ehe wir urteilten? Haben wir zum Frieden geredet und alles zum Besten gewendet? Reden wir stets Gutes von unserem Nächsten – auch in seiner Abwesenheit! – und schützen wir seine Ehre im Kleinen wie im Großen? Oder haben wir Freude am Spott über andere? Reden wir nicht allzu oft Menschen nach dem Munde und biegen uns die Wahrheit zurecht, wie wir sie gerade brauchen? Ist dann aber nicht Klarheit und Wahrhaftigkeit in unserer Rede – wie können wir dann vor dem 8. Gebot bestehen? Selbst wenn wir’s könnten und uns auch an den anderen Geboten erfolgreich prüften, so bliebe doch immer noch das erste und gewichtigste, das da lautet: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Natürlich gibt es auch hier die schlichten Gemüter, die meinen, das sei doch nicht schwer, solange man nicht an Wotan, Shiva oder Jupiter glaubt. Aber auch in diesem Fall zählt nicht das Unterlassen des Falschen, sondern das Tun des Richtigen. Denn das erste Gebot fordert von uns, Gott die letzte und maßgebliche Instanz in allen Fragen sein zu lassen. Wir werden aufgefordert, Gott mehr zu vertrauen als uns selbst, unserem Verstand, unserer Kunst und Macht. Der Friede mit Gott soll uns höher stehen als jeder irdische Gewinn und seinen Zorn sollen wir mehr fürchten als den Ärger irgendeines Menschen. Wir sollen bereit sein, unseren Willen komplett dem Willen Gottes unterzuordnen, sollen uns Gott als Werkzeug zur Verfügung stellen und dann ohne Murren die Rolle spielen, die er uns zuweist. Wenn wir das aber nicht schaffen – und ich behaupte, dass es keiner von uns schafft! – wenn wir immer wieder anderen Dingen Priorität einräumen, wie könnten wir da je dem 1. Gebot Genüge tun? Wenn das aber nicht in Ordnung ist, wie können wir uns dann einreden, irgendetwas anderes in unserem Leben könnte noch in Ordnung sein? Wir bleiben Gott die Hauptsache schuldig, und dann setzt sich jemand hin, schlürft seinen Kaffee und meint, Vergebung bräuchten die Anderen – weil er ja nach den Zehn Geboten lebt? Kann man Jesus schlimmer verspotten, als wenn man unterstellt, er sei – was mich betrifft – unnötigerweise am Kreuz gestorben? Der 1. Johannesbrief fällt über solche Anmaßung ein klares Urteil: „Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit Gott haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit. Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde. Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.“ „Wenn“ sagt Johannes. Und alles hängt daran, dass uns der konditionale Sinn dieses Wörtchens bewusst wird. Wenn wir unsere Sünden bekennen, wird Gott sie uns vergeben: „Wenn“! Wenn wir unsere Sünde aber nicht bekennen, weil wir sie uns gar nicht eingestehen, sie nicht bereuen und nicht verabscheuen, wie sollte dann Vergebung möglich sein? Es gibt keine Vergebung ohne Reue – und es gibt keine Reue ohne Einsicht. Wenn Selbstzufriedenheit aber die Einsicht verhindert, dann ist sie dem Menschen zum Verhängnis geworden, indem nämlich Christus tatsächlich vergeblich gestorben ist für die, die meinen, ihn nicht nötig zu haben. Bittet einer nicht um Vergebung, so kann sie ihm auch nicht zu Teil werden. Nimmt er Jesu Opfer nicht an, so kommt es ihm auch nicht zugute. Schlägt er Jesu Angebot aus, dass Jesus für ihn einstehen will, so muss er auf eigene Rechnung leben und sterben. Weil das aber keine gute Idee ist, darum nutze jeder die Zehn Gebote als Checkliste für seinen moralischen Zustand! Das aber nicht, damit ihm die Strenge dieser Maßstäbe zur Belastung werde, sondern mit dem Ziel, seine Schuld zu entlarven, sie dann schleunigst an Christus abzugeben und damit zu überwinden. Denn das Versagen, das ich mir nicht eingestehe und das ich nicht wage beim Namen zu nennen – das hat weiter Macht über mich. Das erkannte Versagen aber, das kann ich loswerden, indem ich es Gott zu Füßen lege. Die verschwiegene Sünde kann mich immer weiter vergiften, weil ich sie weiter mit mir schleppe. Die Sünde aber, die ich Gott bekenne, die ist eben damit schon besiegt. Der Ballast, der an mir hängt, kann mich nur so lange herunterziehen, bis ich ihn erkannt, benannt und Jesus überlassen habe. Erlauben wir also Christus, die Zuständigkeit für unsere Fehler zu übernehmen, und hindern wir ihn nicht bei seiner Arbeit!