Der Weg des Glaubens stellt hohe Anforderungen. Und niemand kann sagen, er sei bereits am Ziel angekommen. Doch für Gott zählt nicht, ob einer vorne läuft oder hinten. Entscheidend ist nicht, wie nah der Mensch der Vollkommenheit ist. Sondern für Gott zählt nur, ob er im Rahmen seiner Möglichkeiten sein Bestes gibt. So kann „schwacher“ Glaube „genug“ sein, wenn der Mensch nur unterwegs bleibt, kämpft, strebt und läuft. Und „starker“ Glaube kann „zu wenig“ sein, wenn der Mensch sich ins Gras setzt und sich auf dem Erreichten ausruht.

Glaubensfortschritt

Hat man je genug geglaubt?


Wer den christlichen Glauben durchdenkt, stellt bald fest, dass er kolossal hohe Anforderungen stellt. Glauben heißt: Gott Gott sein lassen und sich seinem Wort unterordnen. Es heißt, sich in Gottes Willen ergeben und den Mitmensch lieben. Glauben heißt, Gott oberste Priorität geben und sich entschlossen an Christus hängen. Glaube ist unbedingtes Vertrauen, ist Gehorsam, ist Hingabe. Und wer das alles zusammennimmt, kann vor dieser Aufgabe schon erschrecken. Denn er wird finden, dass der christliche Glaube dort, wo er ganz verwirklicht würde, identisch wäre mit dem, was die Bibel „Gerechtigkeit“ und „Heiligkeit“ nennt. Ja, wer wirklich von ganzem Herzen Gott liebte, der würde ganz von selbst alle Zehn Gebote erfüllen. Das gottgefällige Denken und Handeln wäre ihm ganz selbstverständlich. Und das heißt in letzter Konsequenz: Wer im vollen Sinne „glauben“ könnte, wäre gar kein Sünder mehr, sondern wäre der Mensch, wie ihn Gott gewollt hat. Und wo ist dabei das Problem? Das Problem ist, dass wir zu solchem Glauben nicht fähig sind – und dennoch wissen, dass es auf den Glauben ankommt. Denn schließlich ist es allein der Glaube, der uns mit Christus verbindet. Allein durch den Glauben haben wir Zugang zu Gottes Gnade. Wer aber im beschriebenen Sinne nicht glauben kann, wer diesem Ideal nicht genügt, ist der dann auch von der Gnade ausgeschlossen? Aus dem Gefühl heraus will man „nein“ sagen – das kann so nicht sein – denn schließlich ist Christus nicht für Heilige und Gerechte gestorben (die dieses Opfer gar nicht nötig hätten), sondern für Sünder. Nur: Wo liegt der Fehler? Sollten wir den Glauben falsch beschrieben haben? Nein – es stimmt schon: Glaube ist Hingabe und Gehorsam, Liebe, Vertrauen und Ergebung. Nur darf man nicht übersehen, dass es sich um ein Ideal handelt, das wir in dieser Reinheit nicht leben können – und das wir zum Glück auch nicht in Reinform leben müssen. Denn wenn das Evangelium sagt, dass es Sünder sind, die durch ihren Glauben an Jesus Christus die Gnade erlangen, dann meint es damit offensichtlich nicht jenen „vollkommenen“ Glauben, der mit Gerechtigkeit und Heiligkeit identisch wäre. Nein. Das Neue Testament rechnet gar nicht mit „vollkommenen“ Christen. Vielmehr: Wenn es uns die Jünger Jesu vor Augen stellt, zeichnet es ein ganz realistisches Bild ihres Kleinglaubens, ihrer Schwäche und ihrer Fehlbarkeit. Der Glaube der Jünger besteht darin, dass sie dem Glaubensziel entgegenstreben, ohne es bereits ergriffen zu haben. Sie sind unterwegs, sie sind aber nicht am Ziel. Und einen anderen als diesen fragmen-tarischen, stets angefochtenen Glauben hat auch die spätere Christenheit nie hervorgebracht. Denn es gibt niemand, der auf dem Weg des Glaubens Voll-kommenheit erlangt, sondern es gibt immer nur Menschen, die sich in einiger Entfernung vom Ziel, dem Ziel zu nähern versuchen. Gewiss sind einige näher dran als andere. Es gibt beispielhafte Frömmigkeit, Glaubenstiefe, Bekennermut. Einige streben dem Ziel ja schon lange zu – und andere erst seit kurzem. Doch gibt es zwischen ihnen keinen prinzipiellen, sondern nur einen graduellen Unterschied. Denn von keinem kann man sagen, dass er das Ziel erreicht hätte. Die einen sind 500 Meter davon entfernt, die anderen 50 oder 5000 Meter. Die einen scheinen „stark“ und „erfahren“ im Glauben, die anderen eher „schwach“ und „wankelmütig“. Doch wer könnte von sich sagen, er habe „genug“ geglaubt, „tief“ genug, „intensiv“ genug und „herzlich“ genug? Das kann keiner. Denn wer nicht am Endpunkt des Weges steht, kann nicht sagen, er sei schon weit genug gegangen. Er kann immer nur sagen, er sei unterwegs. Wir finden darum bestätigt, was schon Martin Luther festgestellt hat: „Also ist dies Leben nicht eine Frommheit, sondern ein Frommwerden, nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Wesen, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werdens aber; es ist noch nicht getan und geschehen, es ist aber im Gang und Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg; es glühet und glimmt noch nicht alles, es reinigt sich aber alles.“ Freilich: Wenn das stimmt, und kein Mensch zu Lebzeiten das Ziel erreicht, hat es dann noch Sinn, sich anzustrengen? Kann man sich die Mühe dann nicht sparen und sich zurücklehnen? Die Folgerung wäre berechtigt, wenn der Sinn des Laufens ausschließlich im Erreichen des Zieles läge. Doch ist das nicht so selbstverständlich wie es klingt. Es ist ebenso denkbar, dass das Laufen in sich selbst einen Wert hat. Dann wäre weniger das Ankommen entscheidend, als das Unterwegs-Sein. Und genau das, meine ich, setzt die Bibel voraus. Denn wie wäre sonst zu erklären, dass Jesus zwischen den „Anfängern“ und den „Fortgeschrittenen“ des Glaubens so wenig unterschied? Gewiss sprach er von „kleinem“ und von „großem“ Glauben. Und natürlich forderte Jesus von seinen Jüngern den „großen“. Aber er traute auch dem „kleinen“ Glauben zu, dass er Berge versetzen kann. Und er wandte sich Menschen zu, die kaum Glaubenserfahrung vorzuweisen hatten, bloß weil sie sich in ihrer Verzweiflung zu ihm flüchteten. Manchmal lobte er den Glauben dieser Menschen, obwohl sie nicht einmal Juden waren. Und gleichzeitig ließ er viele religiöse „Profis“ links liegen. Warum aber? Ich sehe nur eine einleuchtende Erklärung: Offenbar zählt für Gott nicht so sehr, wo sich ein Mensch auf dem Weg des Glaubens befindet (wie nah oder fern er also der Vollkommenheit ist), sondern für Gott zählt, ob der Mensch auf diesem Weg läuft und ob er sich ernstlich um den Glauben bemüht. Um es bildlich zu sagen: Einer der weit „hinten“ auf der Rennstrecke schwitzt und keucht, ist Gott lieber als einer, der weit „vorne“ im Gras sitzt und sich ausruht. Denn Gott weiß, von wie vielen äußeren Faktoren es abhängt, wie weit einer mit seinem Glauben kommt. Manche Menschen haben es schon durch ihre Herkunft und Erziehung leichter mit dem Glauben, weil sie immer von gläubigen Menschen umgeben waren. Andere aber werden durch psychische, soziale und biographische Umstände in der Entwicklung ihres Glaubens gehemmt. Ich denke, dass Gott, weil er das weiß, daraus ähnliche Folgerungen zieht, wie ein fairer Sportlehrer. Er sieht, dass die kleinen Dicken nicht so schnell laufen können wie die großen Schlanken. Es ist nicht ihre Schuld. Und darum benotet ein fairer Sportlehrer nicht die „objektiven“ Zeiten, die er gestoppt hat, sondern das Engagement, das er beobachtet. So ein Sportlehrer bewertet den Schüler danach, ob er sich bemüht hat, im Rahmen seiner Möglichkeiten das Beste zu geben. Und ich meine, dass Gott es ähnlich hält. Es kommt ihm nicht so sehr darauf an, ob wir auf dem Weg des Glaubens vorn oder hinten laufen. Aber er legt Wert darauf, dass wir im Rahmen unserer Möglichkeiten unser Bestes geben. Es wird ohnehin keiner aus eigener Kraft die Ziellinie überschreiten. Auch der Frömmste nicht. Das „Ankommen“ muss Gott uns genauso schenken wie die Kraft zum Laufen. Aber er will beides nicht denen schenken, die sich ins Gras legen und damit ihr Desinteresse demonstrieren, sondern er wird es denen schenken, die er bis zuletzt laufen sieht. Schließlich: Wenn es sich jemand abseits des Weges gemütlich macht, wenn er nicht mehr strebt und kämpft, sondern mit sich zufrieden ist, wie sollte man bei dem von „Glaube“ reden? Hüten wir uns darum, aus dem Gesagten falsche, allzu bequeme Konsequenzen zu ziehen! Es stimmt zwar, dass unser Glaube immer unvollkommen sein wird. Aber das bedeutet nicht, dass wir uns bei dieser Unvollkommenheit beruhigen dürften. Es ist richtig, dass der Glaube kein „Haben“ ist, sondern ein „Streben“. Wer daraus aber folgern wollte, er könne sich mit der Schwäche seines Glaubens getrost abfinden, der hätte im selben Moment mit dem Streben auch den Glauben aufgegeben. Ein solcher Mensch hätte sich tatsächlich „ins Gras fallen lassen“ und er wäre damit – in einem sehr ernsten und schrecklichen Sinne – „aus dem Rennen“. Darum: Ziehen wir die richtigen Konsequenzen! Denn dann werden die „Schwachen“ im Glauben getröstet werden, und die „Starken“ werden zu weiteren Anstrengungen motiviert. Für die Schwachen im Glauben folgt aus dem Gesagten, dass sie ob ihrer Schwäche nicht verzweifeln müssen. Denn solange einer überhaupt auf dem Weg des Glaubens voranzukommen sucht, rechnet Gott ihn zu den „Laufenden“. Ob er vorneweg läuft oder hinterher, ist dabei nicht so wichtig. Denn auch schwacher und schwankender Glaube ist dann nicht „zu wenig“. Für die „Starken“ im Glauben folgt aber, dass auch ihr starker Glaube nie in dem Sinne „genug“ ist, dass sie sich darauf ausruhen könnten. Denn, wenn es Gott nicht so sehr darauf ankommt, ob wir „nah“ oder „fern“ vom Ideal sind, sondern darauf, dass wir danach streben, dann ist dieses Streben eine lebenslange Aufgabe. Es gibt dann keinen fortgeschrittenen „Glaubensstand“, bei dem wir uns beruhigen könnten. Und es gibt auch für die Superfrommen kein „genug“ des Glaubens. Vielmehr ist das tägliche Ringen um den Glauben für den religiösen „Spitzenathleten“ genauso nötig wie für den „Fußkranken“. Die Schwachen müssen sich ihres „Rückstandes“ nicht schämen. Und die Starken dürfen sich auf ihren „Vorsprung“ nichts einbilden. Wer auf dem Weg ganz hinten steht, kann sich augenblicklich auf den Weg machen – und gehört im selben Augenblick zu den „Laufenden“. Wer aber dem Ziel des Glaubens nahe kommt und kurz davor das Streben aufgibt, gehört augenblicklich zu den „Sitzenden“ – und hat alles verloren. Passen wir also auf, dass wir „unterwegs“ bleiben. Wachsen wir im Glauben so gut wir können. Und bemühen wir uns dabei um jene Mischung von Realismus, Zuversicht und Entschlossenheit, die schon Paulus bekundet hat:


„Nicht, dass ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin. Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht so ein, dass ich's ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.“ (Phil 3,12-14)