MENSCHWERDUNG

 

„Die Menschwerdung (incarnatio), durch welche die Person des Gottmenschen wird, besteht darin, dass der Sohn Gottes (logos) die menschliche Natur in seine persönliche Gemeinschaft aufnimmt und aufs festeste und für Ewigkeit unauflöslich mit sich und seiner göttlichen Natur vereinigt, und zwar so, dass auf keine Weise beide Naturen ineinander aufgehn, oder miteinander vermischt werden.“ (Adolf Hoenecke)

 

„Als die Menschheit in den tiefsten Jammer versunken war, da traten die Barmherzigkeit und Wahrheit zu gleicher Zeit vor den Thron Gottes. Die Barmherzigkeit sprach: die vernünftige Kreatur bedarf der Rettung, sie ist im schrecklichsten Elend; die Wahrheit dagegen: nein, Herr, du musst dein Wort halten; Adam muss sterben mit seinen Nachkommen, weil sie gesündigt haben. Als sich nun diese beiden eine Weile gestritten hatten, ohne dass die eine der andern nachgeben wollte, neigte sich der Richter nieder und schrieb solches mit seinem Finger: Du sagst, stirbt Adam nicht, so ist es um mich geschehen, und du: erlangt er kein Erbarmen, so ist es um mich geschehen. Der Tod soll etwas Gutes werden, so wird euch beiden Genüge getan. Da erstaunte der ganze Himmel über das tiefe Wort der Weisheit. Aber, wie mag das zugehen? fragte man. Ist doch der Tod so grausam und bitter; wie soll er gut werden? Darauf der Richter: Der Tod von Sündern ist erschrecklich, der Tod von Heiligen aber kann sogar köstlich werden. Oder sollte er es nicht sein, wenn er der Eingang zum Leben, die Pforte zur Herrlichkeit würde? Ja, dann ist er köstlich, sprechen die Himmlischen. Aber wie soll es dahin kommen? Es darf nur jemand aus Liebe sterben, der nicht zu sterben braucht, entgegnet der Herr. Denn die Liebe ist stark wie der Tod, ja noch stärker. Dringt sie in seinen Palast ein, so bindet sie ihn, raubt ihm alle seine Waffen und bahnt den Pfad für viele. Ein teures und aller Annahme wertes Wort! klingt es ringsum wieder, und die Wahrheit macht sich auf und durchläuft die ganze Erde, ob sie jemand finde, der rein von Sünden wäre; aber sie findet keinen, auch unter den jüngsten Kindern nicht. Die Barmherzigkeit durcheilt zu gleicher Zeit den Himmel und findet unter den Engeln zwar der Reinheit, aber nicht der Liebe genug. Beide kommen traurig und bekümmert zurück, weil sie vergebens gelaufen sind. Da nimmt sie der Friede beiseite und spricht zu ihnen: Ihr wisst und bedenkt nichts! Es gibt keinen, der eine solche Tat tun könne, auch nicht einen. Der den Rat gegeben hat, der mag auch die Hilfe leisten. Der Herr hatte indessen das leise Gespräch gehört und winkte Gewährung. Sofort musste der Engel hinabsteigen und der Tochter Zion melden: Siehe, dein König kommt! Und als er dann kam, brachte er den treuen Ratgeber, den Frieden, mit; so dass die Engel sangen: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“

Bernhard (+1153) 

 

„Was ist herrlicher, als den in Menschengestalt zu sehen, der des Menschen Schöpfer ist! Im Mutterleibe wird er empfangen, der immerdar in des Vaters Schoß sitzt. Von Ewigkeit her vom Vater ohne Mutter geboren, wird er in der Zeit von einer Mutter ohne Vater geboren. In Windeln gewickelt liegt, der die Erde mit Gesträuch und Bäumen bekleidet, den Himmel mit Sternen geschmückt, das Meer mit Fischen erfüllt hat. Er, den der Himmel Himmel nicht fassen mögen, wird von enger Krippe umschlossen und nährt sich an der Mutter Brust. Er nimmt zu an Weisheit, dessen Weisheit ohne Anfang und Ende ist, er nimmt zu an Alter, dessen Ewigkeit nicht zu- noch abnimmt, er nimmt zu an Gnade, der Urheber aller Gnade ist. Den alle Kreatur anbetet, vor dem aller Knie sich beugen, wird Eltern untertan. Es wird getauft der Herr vom Knecht, der Gott vom Menschen, der König vom Untertanen. Er, dem die Engel dienen, wird vom Teufel versucht. Der das Brot ist, hungert; der die Quelle ist, dürstet; der der Weg ist, wird müde. Die Herrlichkeit lässt sich beschimpfen, die Majestät sich erniedrigen, das Leben gibt sich in den Tod dahin.“

Anselm (+1109)