SCHULD UND VERGEBUNG

 

Martin Luther schreibt am 21. August 1544 an Georg Spalatin, der sich einen Fehler schwer zu Herzen nimmt:

 

„Es ist übrig genug, dass ihr euch hierin vergriffen habt; so lasst doch die Sünde nicht an euch bleibend, sondern vorübergehend sein und lasst ab von der Traurigkeit, die eine noch viel größere Sünde ist. Hört den seligen Trost, den der Herr euch vorhält durch den Propheten, da er spricht, Ezech. 33,11.: „So wahr ich lebe, ich habe keinen Gefallen an des Sünders Tod, sondern dass er sich bekehre und lebe.“ Meint ihr denn, des Herrn Hand sei allein bei euch zu kurz geworden? Jes. 59,1. Oder hat er allein an euch aufgehört, gnädig und barmherzig zu sein? Ps. 77,10. Oder seid ihr der erste, der es durch seine Sünde so übel ausgerichtet hat, dass wir nunmehr keinen Hohenpriester haben, der da könnte Mitleid haben mit unserer Schwachheit? Oder dünkt es euch wunderbar oder neu, dass ein Mensch, so im Fleische lebt und mit so vieler Teufel unzähligen feurigen Pfeilen umgeben ist, zuweilen verwundet oder zu Boden gefällt wird? Ihr scheint mir, mein lieber Spalatin, im Streit wider Sünde, bös Gewissen, Gesetz und Schrecken des Todes noch wenig erfahren zu sein; oder der Satan hat euch aus den Augen und Gedächtnis gerückt allen Trost, so ihr je in der Schrift gelesen habt, dadurch ihr außerhalb der Anfechtung, gerüstet auf’s allerbeste, euch habt zu erinnern gewusst, was Christi Amt und Wohltaten seien; ja, er hat euch auch alle eure schönen christlichen Predigten von Gottes Gnade und Barmherzigkeit, in Christo uns erzeigt, damit ihr andere gelehrt, ermahnt und getröstet habt mit fröhlichem Geist und großem freudigem Mut, aus dem Herzen gerissen. Oder ihr seid sicherlich bisher nur ein schwacher Sünder gewesen, der sich nur ganz geringer und kleiner Fehler und Schwachheiten bewusst war. Derhalben ist meine treue Bitte und Vermahnung, ihr wollet euch gesellen und halten zu uns, die wir rechte, große und hartgesottene Sünder sind, damit ihr uns Christum ja nicht klein noch gering macht, als der allein von erdichteten, schlechten, kindischen Sünden könnte helfen. Nein, nein, das wäre nicht gut für uns, sondern er ist der Heiland und Erlöser von rechten, großen, schweren, verdammten Übertretungen und Missetaten, ja, von den allergrößten und ärgsten, und in Summa, von allen Sünden miteinander. Auf diese Weise tröstete mich einst D. Staupitz, da ich auch einmal eben in diesem Spital und gleicher Anfechtung krank lag, wie ihr jetzt. Ei, ihr wollt, sagte er, ein gemalter Sünder sein, und derhalben Christum nur für einen gemalten Heiland haben. Ihr müsst euch recht gewöhnen zu glauben, dass Christus ein wahrer Heiland sei, und ihr dagegen ein wahrer Sünder seid. Denn Gott scherzt nicht, geht auch nicht mit erdichteten Dingen um; sondern es ist ihm ein rechter, großer Ernst gewesen, da er seinen einigen Sohn in die Welt gesandt hat und für uns alle dahingegeben etc., Röm. 8,32. Joh. 3,16. Diese und dergleichen Gedanken (aus den Trostsprüchen der Schrift geschöpft) hat euch der leidige Satan aus dem Gedächtnis entzogen, dass ihr euch derselben jetzt in eurer großen Angst und Schwermut nicht erinnern könnt. Darum reicht doch um Gottes willen eure Ohren her und höret, Bruder, doch, wie ich, euer Bruder, fröhlich singe, der ich außerhalb eurer Traurigkeit und Schwermut stehe und stark bin, und zwar darum stark, auf dass ihr, der ihr schwach seid und vom Teufel gejagt und erschreckt, euch auf mich stützen und aufrichten möget, bis dass auch ihr, wieder aufgerichtet, dem Teufel könnet Trotz bieten und getrost singen: „Man stößt mich, dass ich fallen soll, aber der Herr hilft mir“, Ps. 118,13. Gedenkt doch jetzt, ich sei Petrus, der euch die Hand reiche und zu euch spräche: „Im Namen Jesu stehe auf und wandele“, Apost. 3,6. Ach, mein lieber Spalatin, hört doch und glaubt den Worten, die Christus durch mich zu euch redet; denn ich irre ja nicht, das weiß ich, viel weniger rede ich etwas teuflisch, sondern Christus redet durch mich (weil ich euch sein Wort vorhalte), und gebietet euch, dass ihr eurem Bruder in gemeinsamem Glauben gehorchen und glauben sollt. Er selbst absolviert euch von dieser und allen Sünden, so werden wir denn teilhaftig eurer Sünden und helfen sie euch tragen. Darum seht zu, dass ihr auch mit uns teilnehmt an unserem Trost, der wahrhaftig, gewiss und beständig ist…“