Die gütliche Einigung durch Kompromisse empfiehlt sich, wenn Interessen auszugleichen sind. Sie empfiehlt sich aber nicht, wenn es darum geht Tatsachen festzustellen. Denn anders als Güter und Interessen sind Tatsachen und Wahrheiten nicht verhandelbar. Das, was evangelische und katholische Christen trennt, gehört zum zweiten Bereich. Denn über den richtigen Weg zum Heil kann man sich nicht „gütlich einigen“, indem „jeder ein bisschen nachgibt“. Der richtige Weg, durch Gottes Offenbarung vorgegeben, gehört nicht zu den Dingen, um die man feilschen dürfte! Und eine Einheit auf Kosten der Wahrheit wäre auch nicht in Sinne Jesu.

Ökumene der Kompromisse?

 

Es ist nun fast 500 Jahre her, dass sich die Kirche in eine evangelische und eine katholische Konfession aufgespalten hat. Und viele Menschen fragen sich, warum diese Spaltung nicht längst wieder überwunden wurde. „Wie können die Theologen nur so stur sein?“ heißt es, „Warum haben die sich nicht längst verständigt?“ Aufeinander zugehen und Streit überwinden – diese Forderung kommt in Kirchen-kreisen gut an. Und viele sind auch deshalb schnell für die Ökumene zu gewinnen, weil sie den Unterschied zwischen „evangelisch“ und „katholisch“ gar nicht mehr kennen. Man drängt also auf Kompromisse. Aber wird das der Sache gerecht? Ist es wie bei unartigen Kindern, die sich aus geringfügigem Anlass gezankt haben und denen man sagt: „Gebt euch die Hand, vertragt euch wieder“? So einfach liegen die Dinge nicht. Denn es geht keineswegs um theologische Rechthaberei, sondern um das Evangelium Jesu Christi, das die Gewissen nur dann befreien kann, wenn es unverfälscht und rein gelehrt wird. Strittig ist keine Nebensache. Strittig ist der Weg, der die Seelen zum Heil führt. Und es wäre fahrlässig, wenn man es da „nicht so genau nehmen“ wollte. Denn wenn die Kirchenvertreter „Hirten“ sind, von denen einige die christliche Herde nach rechts rufen und andere nach links, dann können nicht beide Seiten Recht haben. Und dann nützt es auch nichts, eine Einigkeit herbeizureden, die faktisch nicht besteht. Denn der Streit, der vor 500 Jahren zur Trennung führte, gehört nicht zu der Art von Konflikten, die durch Kompromisse gelöst werden können. „Wie denn?“ wird mancher sagen: „Gibt es denn verschiedene Konflikte? Sollten nicht alle auf dem Wege des Kompromisses zu befrieden sein?“ Eben das aber ist der Punkt auf den es mir ankommt. Denn Kompromisse helfen durchaus nicht immer! 

Stellen sie sich ein Ehepaar vor, das regelmäßig über das Fernsehprogramm streitet, weil die Frau gern Krimis sieht und der Mann politische Magazine. Wenn die beiden ihren Konflikt beilegen indem sie sagen: Heute bestimmst du das Fernsehprogramm, dafür bestimme morgen ich (und so weiter, immer abwechselnd) – dann ist das ein sinnvoller Kompromiss. Wenn dasselbe Ehepaar aber darüber streitet, wo man im Urlaub vor 20 Jahren diesen Strohhut gekauft hat, und die Frau sagt „Es war in Neapel“, während der Mann sagt „Es war in Florenz“ – können sie dann ihr Problem in derselben Weise lösen wie beim Fernsehen und beschließen: „Ok, an geraden Tagen hast du Recht (es war in Neapel), und an ungeraden Tagen habe ich Recht (es war in Florenz)? Das wäre Unsinn! Und wir erkennen daran, dass Kompromisse nicht immer helfen! Wenn gestreikt wird, und die Gewerkschaft fordert 12% Lohnerhöhung, die Arbeitgeber bieten aber nur 2 % an, dann kann es einen Kompromiss geben, der vielleicht bei 7 % liegt. Und alle werden zufrieden sein. Aber wenn ein Schüler an die Tafel gerufen wird um auszurechnen, wieviel 2 x 12 ist, und er sagt: „28“ – wird der Lehrer dann etwa antworten: „Na ja, ich dachte zwar es wäre 24, aber lass uns einen Kompromiss schließen, treffen wir uns in der Mitte und sagen wir 2 x 12 sei 26“? Würde das irgendwen überzeugen? Wenn Hinterbliebene eine Erbschaft aufteilen müssen und einer sagt: „Ok, ich bekomme das Grundstück und die Möbel, und du nimmst dafür das Auto und das Sparbuch“, dann kann das ein sinnvoller Kompromiss sein. Wenn aber zwei Wissenschaftler darüber streiten, ob Neptun größer ist als Pluto (oder umgekehrt) – wird man den Konflikt dann beilegen, indem man sagt: „Vertragt euch! Vorschlag zur Güte! Wir einigen uns darauf, dass sie gleich groß sind?“ Werden nicht beide Seiten protestieren und darauf bestehen, so lange nachzumessen, bis geklärt ist, wer Recht hat? Viele Dinge lassen sich aushandeln! Aber eben nicht alle. Denn wenn jemand im Krankenhaus liegt und der eine Arzt sagt „Der Patient hat Malaria“ und der andere Arzt sagt „Nein, er hat Typhus“ – kommt dann die Krankenschwester und ruft: „Streitet nicht, vertragt euch, wir einigen uns einfach auf Cholera?“ Kein Patient wäre mit diesem Kompromiss zufrieden! Und warum nicht? Warum scheint uns der Weg des Kompromisses in manchen Fällen so passend und in anderen gar nicht? Es ist leicht zu sehen: Die gütliche Einigung durch Kompromiss empfiehlt sich immer, wenn Interessen auszugleichen sind. Sie empfiehlt sich aber nicht, wenn es darum geht Wahrheiten und Tatsachen festzu-stellen. Denn anders als Güter oder Interessen sind Tatsachen nicht verhandelbar. Wer das Fernsehprogramm bestimmt und wie hoch die Lohnerhöhung sein wird – darüber lässt sich reden, weil es im Ermessen der Beteiligten liegt. Wo aber der Strohhut gekauft wurde und wieviel 2 x 12 ist, das liegt nicht im Ermessen der Beteiligten, das können sie nicht aushandeln, sondern das müssen sie herausfinden. Um Preise, Löhne und Verträge kann man feilschen wie die Teppichhändler auf dem Basar. Doch das Größenverhältnis von Planeten ist ebenso wenig verhandelbar wie die korrekte Diagnose im Krankenhaus, weil das Gegebenheiten sind, die der Mensch vorfindet. Indem er feststellt, was der Fall ist, kann er immernoch richtig oder falsch liegen. Aber die Feststellung einer Tatsache wird nie ein „gelungener Kompro-miss“ sein. Denn wenn von zwei Behauptungen nur eine richtig sein kann – was hilft es dann, wenn die Kontrahenten „um des lieben Friedens willen“ Zugeständnisse machen? Wenden wir das auf den 500-jährigen Streit zwischen evangelischen und katholischen Christen an, stellt sich die Frage, mit welcher Art von Konflikt wir es zu tun haben. Geht es da um konkurrierende Interessen, die sich mit diplomatischem Geschick ausgleichen lassen? Oder geht es um die Feststellung einer Wahrheit, die durch Gottes Offenbarung vorgegeben ist? Natürlich gilt Zweiteres. Denn die Theologie hat es in ihrem Themenbereich genauso mit Wahrheitsfragen zu tun, wie die Physiker im physikalischen, und die Mathematiker im mathematischen Bereich. Und das erklärt, weshalb hier mit „Sympathie“, „gutem Willen“ und „Kompromiss-bereitschaft“ genauso wenig zu erreichen ist wie in anderen Wissenschaften. Theologen sind keine Kaufleute oder Lobbyisten, die irgendwelche „Deals“ aus-handeln. Und sie streiten auch nicht über Geschmacksfragen. Sondern sie sind Zeugen der von Gott vorgegebenen Wahrheit. Als „Hirten“ der christlichen Herde können sie sich nicht per Mehrheitsbeschluss auf einen Weg zum Heil „einigen“, sondern haben lediglich den von Gott gewiesenen Weg festzustellen und der Herde bekanntzumachen. Der richtige Weg ist (genau so wenig wie in der Physik) eine Frage von Konzessionen. Er ist durch Gottes Offenbarung vorgegeben. Und die gehört nicht zu den Dingen, um die man feilschen dürfte! Natürlich können Theologen das durch Gottes Wort Offenbarte richtig oder falsch darstellen, so wie man auch in der Mathematik etwas richtig oder falsch darstellen kann. Und der Streit darüber ist schmerzlich! Aber wenn in strittigen Fragen nur eine Seite Recht haben kann, dann ist es absurd von den Parteien zu fordern, sie sollten Abstriche machen und sich um des Friedens willen irgendwo zwischen richtig und falsch in der Mitte treffen. Wie ein Mensch in den Himmel kommt – darüber entscheiden nicht theologische Konferen-zen, sondern Gott entscheidet. Und die Theologen haben der Gemeinde lediglich kundzutun, was Gott in der Schrift über die Maßstäbe seiner Entscheidungen hat wissen lassen. Widersprechen sich dann die Theologen, so liegt die Wahrheit bei der einen Partei oder bei der anderen. Aber sie ergibt sich nicht daraus, dass „jeder ein bisschen nachgibt“ und man sich „gütliche einigt“. Wahrheitsfragen klären sich nicht dadurch, dass man „freundlich aufeinander zugeht“. Denn wenn’s damit getan wäre, hätten das auch schon die Reformatoren und ihre Gegner gekonnt. Die waren damals nicht so dumm, dass sie für gegensätzlich gehalten hätten, was gar kein Gegensatz war. Und wäre es im großen Streit bloß um „Zwischenmenschliches“ gegangen, so hätten sie es gewiss ausgeräumt. Doch die Beteiligten waren weder verbohrt noch haben sie sich missverstanden, sondern sie haben schlicht erkannt, dass ihre Positionen im Kern unvereinbar sind. Und weil sie wussten, dass es um Wahrheit und Irrtum geht, um Seligkeit und Verdammnis der ihnen anvertrauten Seelen, darum haben sie mit Gottes Wort keine Scherze getrieben, sondern haben die schmerzliche Differenz benannt und ausgehalten. Denn Jesus will zwar, dass seine Jünger „eins“ sind im Glauben und in der Wahrheit. Aber eine Einheit, die auf Kosten der Wahrheit durch faule Kompromisse erkauft wird, wäre gewiss nicht in seinem Sinne. Jesus erhebt den Anspruch, die Wahrheit nicht nur zu verkünden, sondern selbst die Wahrheit zu sein. Sollte er es uns da nicht wert sein, in leidenschaftlichem, aber zivilisierten Streit um den klaren Ausdruck seiner Wahrheit zu ringen? Jesus selbst hat es nicht für überflüssig, sondern für notwendig gehalten, mit den Pharisäern und Schriftgelehrten theologische Streitgespräche zu führen! Wenn die aber heftig verliefen und nicht zum Konsens führten, dann hatte das (jedenfalls von Jesu Seite) nichts mit Gehässigkeit oder persönlicher Feindschaft zu tun. Nein! Jesus unterschied den Sünder von seiner Sünde und den Irrenden von seinem Irrtum – und wir sollten das auch tun. Denn wenn ich die Meinung meines Gesprächspartners für falsch halte, muss mich das nicht hindern, ihn als Person stehen zu lassen oder ihm freundschaftlich verbunden zu sein. Ich kann seine Überzeugungen ablehnen, ohne deswegen den Menschen abzulehnen. Und ich kann den Mensch sympathisch finden, ohne deswegen seine Überzeugung sympathisch zu finden. Das eine ist sorgfältig vom anderen zu unterscheiden. Und es ist ein großer Fortschritt, dass das heute auch zwischen evangelischen und katholischen Christen so gut gelingt. Die Feindseligkeiten sind zum Glück überwunden. Und viele schließen daraus, man sei sich auch „in der Sache“ einig. Doch so weit sind wir leider nicht – und sollten auch nicht so tun „als ob“. Die Verschiedenheit der Überzeugun-gen muss respektiert werden. Wenn Mathematiker oder Physiker um eine Frage streiten, erwartet ja auch niemand, dass sie faule Kompromisse schließen. Jeder versteht, dass sie forschen und streiten müssen, bis die Wahrheit zu Tage kommt. Möge man den Theologen dasselbe zugestehen!