Ob das Gesetz dem Evangelium vorausgeht oder ihm nachfolgt, hängt vom Standpunkt der Betrachtung ab: Der Sünder erfährt das Gesetz als verdammende Zwangsordnung, vor der er zum Evangelium hin flieht. Der Gerechtfertigte hingegen, der vom Evangelium herkommt, erlebt es als gute Lebensregel, die ihn in der Nachfolge leitet. Das Gesetz nimmt dabei verschiedene Gestalt an, obwohl es sich inhaltlich nicht ändert. Es muss aber in beiderlei Hinsicht gepredigt werden, weil ohne den Zusammenhang mit dem Gesetz auch das Evangelium nicht so verstanden werden kann, wie es im Neuen Testament gemeint ist.

Gesetz und Evangelium - oder umgekehrt?

 

Luther war der Meinung, in der Theologie sei die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium von allergrößter Wichtigkeit. Dass diese Unterscheidung aber auch schwer fällt, zeigt der Streit um die Reihenfolge: Viele evangelische Theologen (vorwiegend der lutherischen Tradition) halten „Gesetz und Evangelium“ für die richtige Abfolge. Für sie besteht zwischen diesen beiden Worten Gottes ein Gegensatz. Und eine andere Gruppe evangelischer Theologen (vorwiegend der calvinistischen Tradition) hält die Reihenfolge „Evangelium und Gesetz“ für sachgemäßer. Sie sehen auch gar keinen Gegensatz, sondern nur zwei Aspekte ein und desselben göttlichen Wortes. Das klingt zunächst als wäre es ein nebensäch-licher Streit. Doch wenn man sich die Argumente beider Seiten anhört, wird klar, dass es um mehr geht. 

  

Jene, die an der Reihenfolge „Gesetz und Evangelium“ festhalten, verweisen auf die innere Logik des Heilsgeschehens. Denn niemand kann den Zuspruch der Vergebung im Evangelium schätzen, wenn er von seiner Schuld nichts weiß. Und niemand kann sich über die Tiefe seiner Schuld klar werden, wenn ihm nicht das Gesetz als der Maßstab vor Augen steht, an dem er scheitert. Niemand sucht Rettung, wenn er sich in Sicherheit wähnt. Niemand ersehnt die Lösung, wenn er das Problem nicht kennt. Niemand kann ermessen, was Christus für ihn tut, wenn er nicht ahnt, was ihm ohne seine Hilfe blühen würde. Darum gehen die Erkenntnis des Gesetzes und des Zornes Gottes der Erkenntnis Christi und des Evangeliums voraus, wie auch Buße und Reue der Vergebung vorausgehen. Das Evangelium ist die befreiende Antwort auf die Not eines Sünders. Wer aber nach Gnade gar nicht fragt, weil er sich „unschuldig“ fühlt – was kann dem eine gnädige Antwort bedeuten? Wie soll er die Liebe Gottes ermessen, wenn er den Abgrund seiner Schuld nicht kennt? Darum muss das Gesetz dem Evangelium vorausgehen. Und diese Reihenfolge kann nicht umgekehrt werden, weil Christus schließlich „des Gesetzes Ende ist“. Wollte man einem Menschen, der im Evangelium sein Heil ergriffen hat, hinterher wieder mit dem Gesetz drohen, würde man die zugesprochene Gnade nur verdunkeln und dem befreiten Gewissen neue Fesseln anlegen. Wer die Rechtfertigung „allein aus Gnade“ verkündet, und anschließend wieder das Gesetz einschärft, weckt nur Zweifel, ob zum Heil nachträglich doch noch verdienstvolle Werke nötig sind. Die Umkehrung der Reihenfolge stiftet also gerade da Verwirrung, wo es auf größte Klarheit ankommt! 

  

Was antwortet die (nicht weniger evangelische) Gegenpartei? Sie verweist darauf, dass die Orientierung am Willen Gottes mit dem Zuspruch der Gnade nicht endet, sondern an diesem Punkt erst richtig beginnt. Denn nur wer die Liebe Gottes empfangen hat, kann anfangen, sie an seine Mitmenschen weiterzugeben. Und ist er durch Gottes Vergebung der Sorge um sich selbst enthoben, kann er umso besser für den Nächsten da sein. Gerade aus dem Zuspruch erwächst der Anspruch, aus dem Indikativ der Imperativ, und aus der Versöhnung mit dem Heiligen der Wunsch nach persönlicher Heiligung. Leben wir im Geist, sollen wir auch im Geiste wandeln! Sind wir aus Gnade angenommen als Kinder des himmlischen Vaters, sollen wir uns nicht etwa weniger, sondern nur umso mehr an seinem Willen und Gebot ausrichten. Darum erwächst aus dem Evangelium (und nur aus ihm!) der neue Gehorsam, der vor der Wiedergeburt aus Gottes heiligem Geist gar nicht möglich war. Mit der Gabe der Gnade empfangen Christen die Aufgabe, fortan ein gottgefälliges Leben zu führen und die erfahrene Barmherzigkeit an andere weiterzugeben. Und wie könnte man dem besser Ausdruck verleihen als durch die Reihenfolge „Evangelium und Gesetz“? Ein Gegensatz zwischen den beiden Aspekten des einen Wortes Gottes besteht aber so wenig, dass man nur von zwei Seiten derselben Sache reden kann! 

  

Auch das klingt überzeugend. Und wer hat nun Recht? Welche Reihenfolge ist richtig? „Gesetz und Evangelium“ oder „Evangelium und Gesetz“? Steht das Gesetz zum Evangelium in schneidendem Gegensatz, weil das Gesetz uns verdammt, während das Evangelium uns freispricht? Oder bilden beide eine harmonische Einheit, weil das Evangelium uns mit der Liebe beschenkt, die des Gesetzes Erfüllung ist? Es ist kein Wunder, wenn man hier in Verwirrung gerät. Die Lage klärt sich aber, wenn man bemerkt, dass die Einen und die Anderen mit dem Begriff des „Gesetzes“ jeweils unterschiedliche Dinge bezeichnen – oder anders gesagt: Dass das Gesetz ganz verschiedenen Charakter bekommt, je nachdem, ob ich ihm (als Sünder) wütend widerspreche, oder ihm (als Begnadigter) aus freien Stücken zu folgen versuche. Um das zu verdeutlichen, ist es besser, im ersten Fall vom „Gesetz“ und im zweiten von „Gebot“ zu sprechen. Gemeint ist aber nie etwas anderes als ein und derselbe unwandelbare Wille Gottes! Er bleibt sich völlig gleich. Doch in welcher Geisteshaltung ich ihm begegne – das macht einen Unterschied wie Tag und Nacht:

 

Gebot

( vor dem Sündenfall )

Gottes Gebot ist sein heiliger und guter Wille, der in Ewigkeit unveränderlich gilt und den guten Weg zum Leben weist. Solange zwischen Gott und Mensch alles in Ordnung ist, hat dieses Gebot gar nichts Bedrohliches an sich, sondern es beinhaltet nur den gnädigen Anruf des Schöpfers an sein Geschöpf – nämlich die liebevolle Berufung zu Gottes Ebenbild, die vertrauensvoll empfangen und angenommen werden soll. Ohne den Sündenfall wäre es dabei auch geblieben! 

  

Gesetz

( nach dem Sündenfall )

Sobald sich der Mensch zu seiner Berufung in Widerspruch setzt und sündigt, wird ihm Gottes Wille zum verdammenden „Gesetz“, an dem er scheitert, weil er diesem Maßstab weder genügen will, noch ihn ändern kann. Wo er Gottes Gebote übertritt oder sie zu seiner Selbstrechtfertigung missbraucht, bekommen sie den Charakter einer unerbittlichen Vergeltungsordnung, der er nicht entkommt. Das Gesetz wird dem Sünder zum Stolperstein, zum Ankläger und zur Verderbensmacht, denn es zementiert das verdammende Urteil des Richters, der sagt: „Zahle, was du schuldig bist, sonst ist der Tod dein gerechter Lohn!“ 

  

Evangelium

( nach der Erlösung )

Der Sünder befindet sich unter dem Gesetz in einer verzweifelten Lage, bis ihn das Evangelium als die denkbar beste Nachricht erreicht: Jesus Christus ist des Gesetzes Ende! Er durchbricht den Fluch und erfüllt gehorsam Gottes Forderungen, er entnimmt den Sünder dem Verhängnis seiner Schuld und bringt die Drohung des Gerichtes zum Schweigen. Christus befriedet den Konflikt, in dem der Sünder niemals hätte siegen können, und heilt das zerbrochene Vertrauensverhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf. Gottes Wille ist dadurch kein anderer geworden. Nicht das kleinste Gebot wurde aufgelöst! Und doch ist der Weg nun frei für einen neuen, dem ursprünglichen Sinn des Gebotes entsprechenden Gehorsam. 

  

Gebot

( im Stand des Glaubens )

Durch das Evangelium wird das Gesetz als verdammende Macht „abgetan“. Es hört auf eine Last und Drohung zu sein. Doch zugleich wird das Gebot in seiner ursprünglichen, positiven Intention neu in Kraft gesetzt als Gottes gute und lebensdienliche Weisung. Aus dem Zuspruch der Rechtfertigung ergibt sich der Anspruch der Heiligung, der nun in aller Freiheit als Einladung zu einem Leben in der Gotteskindschaft angenommen werden kann. Der Angst und Selbstsorge enthoben wendet sich der Christ fürsorgend seinem Nächsten zu, gibt die empfangene Barmherzigkeit an ihn weiter und erfüllt damit das Gebot Christi auf ungezwungene Weise – nämlich nicht, um von Gott gnädig angenommen zu werden, sondern weil er sich bereits angenommen weiß und gar nicht anders kann, als dem dankbar in gottgefälligem Denken, Reden und Tun Ausdruck zu verleihen. 

 

Hat sich bei alledem der Wille Gottes in seinem Sachgehalt verändert? Nein! Er kann jederzeit an den Zehn Geboten, am Doppelgebot der Liebe oder an der Bergpredigt erläutert werden. Und trotzdem zeigt das Gesetz ganz verschiedene Gesichter, weil es dem Sünder als Todesordnung begegnet und dem Gerechtfertigten als Lebens-regel. Je nachdem steht das Gesetz aber auch zum Evangelium in unterschiedlichem Verhältnis. Und das ist erhellend im Blick auf den oben erwähnten theologischen Streit. Denn in gewissem Sinne haben beide Seiten Recht: 

 

 

Die lutherische Tradition hat Recht, wenn sie auf der Reihenfolge „Gesetz und Evangelium“ beharrt und zwischen beiden einen harten Gegensatz behauptet, denn genau das entspricht der Situation am Punkt – A –. Die Reihenfolge ist richtig, weil man das tiefe Verhängnis menschlicher Schuld nur durch das Gesetz begreift, und ohne diese Einsicht nicht ermessen kann, was Christus für uns tat. Ein harter Wiederspruch ist aber gegeben, weil Gottes Gesetz uns dem Tod überliefert, und Gottes Evangelium uns das Leben schenkt. Obwohl beides Worte Gottes sind, kann Gegensätzlicheres kaum gedacht werden! Die calvinistische Tradition hat aber auch Recht. Denn wenn man die Situation am Punkt – B – zugrunde legt, folgen ja Gebot und neuer Gehorsam aus dem vorausgesetzten Evangelium, so dass hier tatsächlich in umgekehrter Reihenfolge von „Evangelium und Gesetz“ zu reden ist. Hier handelt es sich um das Gesetz Christi, das dem Evangelium in keiner Weise widerspricht, sondern ihm sichtbare Gestalt verleiht. Und insofern ist es sehr verständlich, dass man an Punkt – B – Evangelium und Gebot als Einheit wahrnimmt oder als zwei Seiten derselben Sache. 

Freilich: Aus alledem ist mehr Gewinn zu ziehen als nur, dass in jenem Streit vermittelt werden kann. Es erklärt sich auch, warum man in Gesprächen über das Gesetz so leicht aneinander vorbei redet – und warum solche Missverständnisse in Predigt und Seelsorge gefährlich sind. Denn es hängt vom Glaubensstand des Adressaten ab, welcher Teil der christlichen Botschaft ihn jetzt gerade voranbringt. Wer sich in naiver Zufriedenheit und Selbstgerechtigkeit für einen guten Menschen hält, wird mit dem Trost des Evangeliums nur bedingt etwas anfangen können. Er ahnt nicht, wie sehr er Gnade nötig hat. Und ohne Konfrontation mit dem Gesetz kommt er nicht weiter! Doch was würde diese Konfrontation dem Mühseligen und Beladenen nützen, der seines eigenen Abgrunds gewahr geworden ist und an sich selbst verzweifelt? Ihm muss man nicht von Gebot und Heiligung reden, denn er weiß, dass er diesen Forderungen nicht genügen kann. Einem geplagten Gewissen ist nichts als Evangelium zu predigen! Steht einer in der Glaubensgewissheit aber derart fest, dass sie in falsche Sicherheit umzuschlagen droht, wird es Zeit, von der guten Rebe auch gute Früchte zu fordern, damit die Gnade nicht folgenlos bleibt. 

Seelsorge hat in alledem den Vorteil, dass sie sich stark an der Situation des Gesprächspartners orientieren kann! Doch in der öffentlichen Verkündigung sind natürlich (mit wechselndem Schwerpunkt) alle Aspekte des Wortes Gottes zur Geltung zu bringen. Und da ist gegenwärtig eine erhebliche Schieflage entstanden, weil das Evangelium oft aus dem Zusammenhang mit Gesetz und Gebot heraus-gelöst wird – und ohne diesen notwendigen Kontext nicht mehr besagen kann, was es im Neuen Testament besagt. Im Neuen Testament gibt es nämlich keine Gnade ohne Gericht, sondern nur Gnade im Gericht. Und es kommen auch nirgends Zweifel auf, dass erfahrene Gnade das Leben komplett verändert. Natürlich muss das dementsprechend gepredigt werden, wenn die Predigt schriftgemäß sein soll. Was aber hört man als Kernsatz so mancher Verkündigung? „Gott findet dich o.k., so wie du bist!“ 

Das ist nicht etwa eine Kurzfassung des Evangeliums, sondern es ist schlicht falsch. Denn das Evangelium kommt von Gottes verdammendem Urteil her, dessen Berechtigung der Glaube ausdrücklich anerkennt (Gesetz). Und es zielt darauf ab, das Leben des Sünders zu wandeln, das bisher eben gar nicht „o.k.“ ist (Gebot). Ein Evangelium, das nicht von diesem Gesetz herkäme und nicht auf jenes Gebot zuliefe, wäre einerseits die Antwort auf eine Frage, die niemanden bewegt, und andererseits ein Zuspruch, dem kein Anspruch folgt. So oder so wäre es nicht das volle, in sich spannungsreiche Wort Gottes! Und darum genügt es nicht, dem Menschen zuzu-rufen: „Jesus liebt dich!“. Wenn nichts davor kommt, und nichts dahinter – wenn der Kontext des Gesetzes fehlt –, wird das gut gemeinte Wort schnell zur Banalität, die Gähnen auslöst und trotzdem unverstanden bleibt. 

Ich bitte das schlichte Bild zu entschuldigen, aber: Gesetz und Evangelium sind wie die Ruder eines Ruderbootes. Wer immer nur auf einer Seite rudern wollte, würde sich sinnlos im Kreise drehen. Entweder würde ihn die Strenge des Gesetzes verzweifeln lassen, oder die Milde des Evangeliums würde ihn in falscher Sicherheit wiegen. Wer aber beide Ruder benutzt – der kommt voran.