Gott ist nirgends nicht. Doch folgt daraus keineswegs, dass man überall mit ihm in Kontakt käme. Nur weil Gott „da“ ist, und sein Arm uns streift, heißt das noch nicht, dass Gott auch „für-uns-da“ und zugänglich wäre. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Gottes Gegenwart und unserem Greifen! Denn nur an bestimmten Punkten gibt er sich eine Gestalt, die wir verkraften können. Darum ist nicht alles ein „Gnadenmittel“, was wir dafür halten möchten, sondern nur das, was Gott selbst dazu gemacht hat: Wort, Glaube, Sakrament und Gebet.

Gottes Gegenwart und unser Greifen

 

Die gefährlichsten Illusionen sind jene, die einen großen Teil von Wahrheit enthalten. Denn man erkennt sie so schlecht. Wenn etwas direkt und dreist gelogen ist, merkt jeder gleich, dass es nicht stimmen kann. Es hat ja nicht mal den Anschein des Wahren! Wo sich aber Richtiges und Falsches mischen und verflechten, da passiert es leicht, dass man einem Irrtum Glauben schenkt, um der Wahrheit willen, mit der er verbunden ist. Und um so einen Fall schillernder Halbwahrheit soll es hier gehen. Denn in letzter Zeit höre ich immer wieder den Satz, man könne Gott überall begegnen und müsse dazu nicht in die Kirche, weil die Spuren Gottes doch im ganzen Universum, in allen Menschen und auch in den verschiedensten Kulturen zu finden seien. 

Stimmt das wohl? Stimmt es zur Hälfte? Oder gar nicht? Am häufigsten hört man diese Meinung von Naturliebhabern. Denn viele begeistern sich fürs Wandern, verbringen ihre Zeit am liebsten draußen, fahren in die Berge oder ans Meer und sagen mir, dort wären sie Gott am nächsten und dort spürten sie ihn ganz deutlich, denn schließlich habe er das ja alles geschaffen.  

Dasselbe hört man auch von geselligen Menschen, die Ähnliches behaupten von ihrer Hilfsbereitschaft und der praktischen Nächstenliebe. „Ist Gott nicht in jedem Menschen?“ sagen sie. „Und wenn ich so einem Menschen, der meine Unterstützung braucht, durch Worte und Taten helfe – bin ich Gott dann nicht näher, als wenn ich bloß für mich alleine in der Kirche sitze und bete?“  

Eine dritte Gruppe wendet sich nach innen. Ihr Argument ist aber dasselbe. Denn sie sagen, Glaube sei für sie ein Gefühl. Und wenn sie meditierten und still in sich hineinhorchten, dann würden sie Gott tief drinnen spüren – ja, wenn sie sich ganz in sich versenkten, wäre ihnen auf dem Grunde ihrer Seele Gott ganz nahe und gegenwärtig. Sie meinen, als spirituell-begabte Menschen bräuchten sie keine Bibel, denn sie fühlten Gott doch in sich drin!  

Eine vierte Gruppe kenne ich auch noch, die demselben Muster folgt. Das sind nämlich jene, die meinen dem Göttlichen in der Kunst zu begegnen, die z.B. der Ansicht sind, Gott offenbare sich ihnen in der Musik, und ein entsprechendes Konzert sei für sie darum ein tief religiöses Erlebnis, wie sie es im gewöhnlichen Sonntags-gottesdienst bestimmt nicht hätten. 

Wohlgemerkt – diese Menschen wollen keine Atheisten sein! Sie meinen durchaus, dass sie Gott in ihrem Leben brauchen und auf ihre Weise gläubig sind! Aber sie suchen Gott eben auf Wegen, die für sie persönlich passen, und suchen ihn darum nicht in der Kirche, nicht in der Bibel, nicht in den Sakramenten, im Gebet, bei Jesus Christus oder in der Gemeinde, sondern – da Gott für sie größer ist als jedes Gotteshaus und umfassender als jede Religion – folgen sie seinen Spuren lieber anderswo. Sie ergötzen sich an der Natur, tun gute Taten, versenken sich in Meditation, begeistern sich für Kunst und haben das Gefühl, Gott auf diese Weise näher zu sein als die traditionellen „Kirchenchristen“, die sonntags immer „in die Kirche rennen“, weil ihrer Religiosität die „Weite“ fehlt. 

Nun: Haben diese Leute Unrecht? Muss man ihnen ein klein wenig Recht geben, weil Gottes Spuren doch wirklich überall zu finden sind? Oder erliegen sie einer jener Illusionen, die besonders gefährlich sind, weil sie der Wahrheit zum Verwechseln ähnlich sehen? Stimmt es nicht, dass Gottes Schöpfung seine Größe offenbart, und auch die Schönheit der Musik auf Gott verweist? Stimmt es nicht, dass Gott die Liebe ist, und Liebe in der Mitmenschlichkeit gelebt werden kann? Stimmt es nicht, dass der Glaube seinen Ort in tieferen Schichten der Seele hat, wo man nicht nach außen schaut, sondern nach innen? Wenn das aber alles richtig ist, warum soll dann die Schlussfolgerung falsch sein, dass man die Bibel getrost zur Seite legen kann, um am Sonntag zu wandern, am Montag zu meditieren und am Dienstag seinem Nachbarn zu helfen? Wer braucht da noch Gottesdienst und Gebet, Abendmahl und Predigt, wenn er Gott auch anders haben kann?  

Für viele ist das ein verlockender Gedanke – und wenige bemerken den Fehler. Denn es ist zwar richtig, dass Gott auch außerhalb der Kirchenmauern da ist und wirkt. Falsch ist aber die Annahme, dass man ihm dort auch überall auf heilvolle Weise begegnen könne. Denn Gott ist zwar „da“. Aber das heißt keineswegs, dass er auch „für mich da“ ist, mir zugänglich wird und sich öffnet! „Etwas“ von Gott zu erfahren ist eine Sache – und ist überall möglich. Aber zu ihm in Beziehung zu treten und mit ihm Frieden zu schließen, ist etwas ganz Anderes! Seine Werke zu sehen, ist eine Sache. Seinen Willen zu begreifen, ist etwas ganz Anderes! Nur weil Gottes Arm mich streift, bedeutet das noch nicht, dass er mir sein Herz öffnet. Und nicht jede plumpe Annäherung meinerseits endet mit einer Freundschaft. Denn Gott ist zwar präsent in allem und jedem. Er ist von uns aber nur dort zu begreifen, wo er begriffen werden will. Er ist nur zu packen, wo er sich freiwillig bindet, um für uns da zu sein. Und das tut er beileibe nicht überall, sondern nur in Jesus Christus, in seinem Wort und Sakrament. Entweder haben wir ihn da – oder wir haben ihn gar nicht. Und es wird darum nichts nützen, sich an der Natur zu begeistern oder ein netter Mensch zu sein, mystische Gefühle zu haben oder sich an Musik zu berauschen. Denn die Musik versöhnt uns nicht, die Natur erbarmt sich nicht, und die Gefühle retten uns nicht.  

Warum aber ist das so? Warum bringen uns Gottes Werke nicht automatisch mit ihm in Kontakt? Es liegt einfach daran, dass er ein verborgener Gott ist, der mitten in seinem überwältigenden Tun doch unbegreiflich bleibt. Er ist zwar überall, aber er erschließt sich nicht überall. Er wirkt in seiner gesamten Schöpfung, ist aber deswegen nicht überall offenbar und zugänglich. Und dass er sich überhaupt an bestimmten Punkten erschließen und binden will, ist ein großes Wunder, das wir meist gar nicht angemessen würdigen. Denn der Gott der Bibel ist ein verzehrendes Feuer und bleibt in seiner unumschränkten Freiheit stets erschreckend und bedrängend! Nichts versteht sich weniger, als dass der heilige Gott mit sich reden lässt! Und wer das recht bedächte, würde sich sehr fürchten, ihm zu begegnen. Denn er ist ein Gott, der uns den Atem raubt. Einer der uns gegenüber alle Freiheiten hat, weil er niemandem etwas schuldet, und niemand ihm widerstehen kann. Einer der unsere verborgensten Gedanken kennt, der nach Belieben erwählt und verwirft, der macht, was er will, und nichts erklären muss. Dieser rätselhafte Gott schenkt nicht nur das Leben, sondern verhängt auch den Tod. Und er ist uns näher, als wir uns selber sind. Er ist in seinen Werken herrlich und schrecklich zugleich, ist Grund und Abgrund, ist Richter und Retter – und wenn er uns ins Verhör nähme, könnten wir ihm kein Wort antworten. Gott in seiner unumschränkten Freiheit hebt in den Himmel hinauf und stößt in die Hölle hinab, er erwartet viel und teilt seine Ehre mit nieman-dem. Gott in seiner Majestät ist vieles – ist aber ganz sicher nicht „umgänglich“, „nett“ oder „berechenbar“. Und das ist der eigentliche Grund, weshalb unsere Zeitgenossen irren, wenn sie meinen, sie könnten Gott auf beliebigen Wegen suchen. Denn sie denken zu harmlos von ihm.  

Es naiv, durch die Natur zu wandern und zu meinen, davon verstünde ich den Schöpfer. Es ist naiv, im eigenen Familienkreis ein bisschen hilfsbereit zu sein und zu meinen, Gott sei deswegen mein Freund. Es ist naiv, im eigenen Herzen ein paar religiöse Gefühle zu kultivieren und zu meinen, Gott müsse mich dafür lieben. Es ist naiv, ins Konzert zu gehen und zu meinen, nach ein paar wohligen Schauern hätte man Gott selbst erlebt und stünde mit ihm auf vertrautem Fuß. Denn in alledem begegnet uns Gott auf unverbindliche Weise, macht dabei keine Zusagen, behält sich alle Freiheiten vor und begründet auch keine Gemeinschaft. In Christus hingegen sieht die Sache anders aus, denn da wird uns Gottes Gemeinschaft ausdrücklich angeboten. Gott weiß, wie sehr seine Heiligkeit und Majestät das menschliche Fassungsvermögen übersteigt. Er weiß, dass er uns den Atem nimmt, wenn er sich nicht kleiner und berechenbarer macht. Darum gibt er sich an bestimmten Punkten eine Gestalt, die wir verkraften können, und bindet sich dabei an die Person Jesu Christi, an sein Evangelium und an die Sakramente. Gott weiß, dass er uns nicht unmittelbar begegnen kann, ohne uns durch seine schiere Präsenz zu erschlagen. Darum hat er die Gestalt eines Menschen angenommen und hat sich auf Jesu Wort so verpflichtet, dass wir ihn dabei behaften können. Gott hat sein Wort nieder-schreiben lassen, hat die Taufe und das Abendmahl gestiftet, hat Vergebung zugesagt und zu alledem auch noch seinen Heiligen Geist gesandt, damit er für uns an diesen Punkten berechenbar und zugänglich werde. Er hat sozusagen Treffpunkte festgelegt, an denen wir ihm gefahrlos begegnen können. Er hat zugesagt, dass wir ihn dort nicht verfehlen. Und an diesen Punkten zieht er Samthandschuhe an, um uns kleinen Menschen nicht weh zu tun. An diesen Punkten hat er sich auf ein Format reduziert, das unsere Köpfe fassen können, und bietet uns eine vorteilhafte Beziehung an. Geradezu zärtlich geht er mit uns um, damit wir schadlos mit ihm in Kontakt kommen – an den besagten Punkten. Aber eben nur da! Und wer ihn anderswo sucht, außerhalb seiner Offenbarung, fern der christlichen Gemeinschaft, ohne Gottes Wort und Sakrament, der bekommt es dort nach wie vor mit einem verborgenen Gott zu tun.  

Luther hat das auf den Punkt gebracht als er sagte, es sei ein großer Unterschied zwischen Gottes Gegenwart und unserem Greifen. Gott ist überall frei und unge-bunden, sagt Luther. Gott steht nirgends angekettet wie ein Verbrecher am Pranger. Sondern seine Gegenwart ist etwa so wie die Gegenwart der Sonnenstrahlen. Sonnenstrahlen sind uns ja auch ganz nah! So nah, dass sie uns in die Augen stechen, und wir ihre Wärme auf der Haut fühlen! Und doch könnten wir die Sonnenstrahlen nicht greifen und in einen Kasten einschließen, auch wenn wir noch so lange danach haschen wollten. Wir können die Sonnenstrahlen vielleicht draußen halten, wenn wir am Fenster die Gardinen zuziehen. Aber anfassen oder greifen, besitzen, behalten, einschließen oder festbinden können wir diese Strahlen nicht. Es bleibt da immer ein großer Unterschied zwischen ihrer Gegenwart und unserem Greifen! Und genau so, sagt Luther, ist es auch mit Gott. Denn wenn der auch überall gegenwärtig ist, lässt er sich doch nicht überall packen, sondern gerade wenn wir meinen ihn zu greifen entschlüpft er uns, so dass wir nur die Schale behalten und den Kern doch nicht erwischen. Warum aber ist das so? Einfach weil es einen Unterschied macht, ob Gott „da“ ist, oder ob er „für uns da“ ist. Dann aber ist er „für uns da“, wenn er sein Wort dazutut, sich damit „anbindet“ und sagt: Hier sollt ihr mich finden. Haben wir Gottes Wort darauf, so können wir ihn dabei behaften, dürfen seine Gnade ergreifen und sagen: Hier haben ich dich, wie du es versprochen hast.  

Im biblischen Wort, in der Taufe und im Abendmahl bekommen wir Gott so zu fassen, weil er es angeordnet hat und da gefasst werden will. Aber anderswo? Natürlich ist Gott auch anderswo, ist allgegenwärtig, überall und nirgends. Doch nur dort kann man heilvoll mit ihm in Beziehung treten, wo er sich durch sein Wort selbst bindet, Zusagen gibt und den Menschen an einen Ort bescheidet, wo er sich finden lässt, sich mitteilt und erschließt. Gott tut das nicht immer und überall, tut’s aber zuverlässig in der Person Jesu Christi, in der Taufe und im Abendmahl, im Gebet, im biblischen Wort und in der Gemeinschaft der Gläubigen. Das sind die wenigen Punkte, an die Gott sich gebunden und wo er versprochen hat, auf menschenfreundliche Weise für uns erreichbar zu sein. Da finden wir denn auch keinen verborgenen Gott, sondern einen barmherzigen Vater, der uns mit offenen Armen empfängt. Anderswo aber können wir vergeblich von einem Geschöpf zum andern laufen, können die Natur begaffen und unsere Mitmenschen beglücken, können Räucherstäbchen anzünden, meditieren oder sonst was anstellen – ohne Gottes Angesicht auch nur von ferne zu sehen. Denn an den Orten, die wir selbst bestimmen, ist er zwar „da“, ist aber nicht „für uns da“ und will auch nichts von uns wissen. Es ist also nicht beliebig, wie man sich Gott nähert. Denn er selbst hat bestimmt, auf welche Weise das geschehen soll. Er selbst hat die Treffpunkte festgelegt, an denen er sich mit uns verabredet. Und wer die ignoriert, wird ihn nicht zum Freund haben.  

Wie ist es also? Kann man einen großen Bogen um die Kirche machen und Gott anderswo suchen, weil sein Spuren doch im ganzen Universum zu finden sind? Wir müssen das nun verneinen. Und der Irrtum ist gerade deshalb so gefährlich, weil er der Wahrheit so ähnlich sieht. Wir haben es zwar überall mit Gott zu tun, und alles Gute und Schöne in dieser Welt zeugt irgendwie von ihm. Aber davon, dass ich das weiß, habe ich noch lange keinen Frieden mit Gott, bin nicht mit ihm versöhnt und nicht mit ihm im Reinen. Ich kann also nicht Wandern gehen und dafür das Abendmahl weglassen. Ich kann nicht durch Mitmenschlichkeit das Bibellesen ersetzen. Weder Kunst noch Kultur oder Musik offenbaren den Geist Gottes. Und esoterische Gefühle nützen rein gar nichts, wenn mir Jesus Christus fehlt. Denn Gott hat es nicht den Menschen überlassen, auf welchen Wegen sie ihn finden sollen. Es sind nur wenige Punkte, an denen er mit uns kompatibel ist und seine Türen geöffnet hat. Und wer an denen vorübergeht, wird zu Gottes Haus keinen anderen Zugang finden, sondern wird draußen bleiben. Wer das aber „hart“ findet, der mache sich klar, dass Gottes Liebe kein allgemeines Prinzip ist, sondern in Christus sehr konkrete Gestalt gewann. Gott ist nicht irgendwie „lieb“ und nicht pauschal „barmherzig“, sondern hat sehr konkret festgelegt, auf welche Weise und auf welchen Wegen er barmherzig zu sein gedenkt. Das Neue Testament sagt klar genug, wie und worin uns Gottes Liebe erreichen soll! Sie hat die Gestalt des Glaubens und der Nachfolge, die sich an Jesus Christus bindet und mit Christus gemeinsam durch den Tod ins Leben geht. Darum ist nicht alles ein Gnadenmittel oder Sakrament, was wir dafür halten möchten. Die Taufe aber, das Abendmahl und das biblische Wort – das sind nach Gottes Willen die Kanäle, durch die uns seine Liebe zufließt. Wer sich an diese Kanäle nicht anschließt, darf nicht klagen, wenn ihn Gottes Liebe nicht erreicht. Denn Gott überlässt es nicht uns, auf welchem Wege wir gerettet werden möchten. Er sagt: Wollt ihr mich so nicht, bekommt ihr mich gar nicht. Und wer das nicht recht und billig fände, der hätte wohl nicht verstanden, mit wem er es zu tun hat…