Was der Kirche heute fehlt, ist nicht die oft geforderte „Lässigkeit“, sondern eine neue Scheu vor dem Heiligen. Denn wo die Ehrfurcht fehlt, wird aus berechtigtem Gott-Vertrauen schnell eine plumpe Vertraulichkeit, die dem „Gegenüber“ des Glaubens nicht gerecht wird. Gemessen an seiner Lebendigkeit sind wir tot. Gemessen an seiner Unendlichkeit sind wir eng. Gemessen an seiner Weisheit sind wir töricht. Das aber spüren und akzeptieren zu können, gehört zum Glauben unbedingt dazu. Denn nur wer bereit ist, die Schuhe auszuziehen, wird den Dornbusch brennen sehen.
Ist es gefährlich, Gott zu nahe zu treten?
Es wird heutzutage viel darüber geredet, was der Kirche fehlt. Fast jeder hat eine Meinung dazu. Und die meisten sind sich darin einig, dass vor allem die Gottesdienste „moderner“, „offener“ und „lebendiger“ sein müssten. Nicht „steif“ und „ernst“ soll es da zugehen, sondern eher „unterhaltsam“. Und wenn die Kritik dann an mich als Pfarrer herangetragen wird, heißt die Forderung oft: „Seien sie doch mal locker“. Nun: Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, warum ich – im Sinne dieser Forderung – nicht „locker“ bin. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich im Rahmen eines Gottesdienstes gar nicht „locker“ sein will. Das aber nun nicht, weil es gegen meine Natur, sondern weil es gegen die Natur des Gottesdienstes verstieße, im Gottesdienst „locker“ zu sein. Der Gottesdienst ist eine Begegnung mit Gott. Die Gemeinde versammelt sich vor Gottes Angesicht, um mit Gott in ein Gespräch einzutreten. Und im Gespräch mit Gott kann nur der „locker“ und „lässig“ sein, der Gott nicht kennt. Gottes Gegenwart gebietet Ehrfurcht, Respekt und konzentrierte Aufmerksamkeit. Darum will ich hier bewusst eine Anti-These vertreten: Was unserer Kirche fehlt, ist nicht „Lässigkeit“ und „Lockerheit“, sondern was uns fehlt, ist eine neue Scheu und Ehrfurcht vor dem Heiligen. Ja, wenn uns nur bewusst wäre, wer uns da im Gottesdienst begegnet! Da würde uns ein heilsamer Schrecken in die Knochen fahren. Und das harmlose pastorale Infotainment, zu dem unsere Gottesdienste vielerorts verkommen sind, würde ganz von selbst aufhören. Denn vor Gott sind wir Staubkörner und Eintagsfliegen. Und wenn er uns zur Rechenschaft zieht, können wir ihm auf tausend Fragen nicht eine Antwort geben. Um nicht missverstanden zu werden: Wir dürfen trotzdem zu ihm kommen. Gott liebt uns. Aber ich halte das nicht für eine Lizenz zur Lockerheit und Lässigkeit. Gott erbarmt sich. Aber ich halte sein Erbarmen nicht für eine Einladung, mich Gott ebenbürtig zu fühlen. Gott schenkt Gnade. Aber ich halte das Geschenk der Gnade nicht für ein Angebot, dem Heiligen gegenüber zudringlich zu werden. Was schwatzen wir von Gott, als hätten wir mit ihm Schweine gehütet? Wissen wir denn gar nicht, mit wem wir es zu tun haben? Gewiss ist Gott Mensch geworden! Er wollte uns nahe sein. Er kam uns entgegen in der menschlichen Gestalt Jesu Christi. Und weil Christus unser Bruder wurde, dürfen auch wir Gott unseren lieben Vater nennen. Nur ist uns das durch lange Gewöhnung allzu selbstverständlich geworden. Und es besteht darum die Gefahr, dass aus berechtigtem Gott–Vertrauen eine ungute und plumpe Vertraulichkeit wird. Dabei ist es keineswegs „normal“, dass man Gott ohne Furcht begegnen kann. Im Gegenteil: Alle wirklich Weisen, die je nach Gott gefragt und gesucht haben, erfuhren zuallererst Gottes Unnahbarkeit. Sie erlebten ihn als ein verzehrendes Feuer. Und auch alle großen Religionen dieser Welt zeugen uns zuerst von Gottes heiliger Majestät, der sich kein Mensch ungeschützt nähern kann. Wenn uns aber das Empfinden für diese Distanz abhanden gekommen ist – wie kann man es neu wecken? Ich kenne eine jüdische Legende, die auf drastische Weise erzählt, wie vier Menschen von Gottes Anders-Sein erschüttert werden. Für drei von ihnen hat es schlimme Folgen. Einer aber zeigt, wie diese Erfahrung den Glauben vertiefen und stärken kann:
Die vier Rabbiner, Asai, Elisa, Simon und Akiba, waren eifrig bemüht, Gott zu erkennen. Lange studierten sie mystische Schriften, um in Gottes Geheimnis einzudringen. Eines Tages aber gelang es ihnen und es tat sich ihnen das Tor des Paradieses auf. Gemeinsam schritten sie in den Himmel hinein und näherten sich der unbegreiflichen und furchtbaren Nähe Gottes. Als sie aber wiederkamen, war es schon Abend. Sie schritten riesengroß und dunkel aus der Glut des Westhimmels hervor in schwerem Schweigen. Die anderen Rabbiner aber, die ihnen neugierig entgegengingen, erschraken vor der Verstörung auf ihren Gesichtern. Rabbi Asai ging einfach schweigend in sein Haus und warf sich auf sein Lager, denn er konnte dem Zittern seiner Glieder nicht mehr Einhalt gebieten. Er kehrte sein bleiches Gesicht stumm zur Wand. Er verweigerte Speise und Trank. Sein Gesicht verfiel. Und seine erloschenen Augen harrten dem Tod entgegen. Da ging Rabbi Simon hinweg von seinem sterbenden Freund und sah sich um, und siehe: Die Welt hatte für ihn alles Maß verloren. Kein Ding stand mehr in einem Größenverhältnis zum andern. Alle Umrisse zerflossen und wälzten sich gegen ihn, wie um ihn auszulöschen. Zeit und Raum waren verschwunden, und alles stürzte in furchtbarer Gleichzeitigkeit und Allgegenwart gegen seine Augen. Da warf er sich zu Boden und hielt sich die Augen zu, aber er konnte sein Schauen nicht verhindern, und er schrie laut und schlug mit dem Kopf gegen die Steine, um den eindringenden Bildern einen Ausweg zu schaffen. Als aber die anderen Rabbiner auf sein entsetzliches Schreien hin herbeigeeilt kamen, da fanden sie ihn in Qualen des Wahnsinns. Da sprach Rabbi Elisa: „Uns ist das Maß genommen durch das Maßlose, das wir gesehen haben, und die Welt ist uns verwandelt. Alle Weisheit, der wir bisher unser Leben gewidmet haben, was ist sie anderes als ein vom großen Sinn abgesplittertes Stück Sinnlosigkeit, ein vom Ewigen abgebrochenes Stück Vergänglichkeit, eine vom Unendlichen abgetrennte Nichtigkeit! All unsere guten Werke, wiegen nicht mehr als ein Sandkorn. All unsere Frömmigkeit ist noch nicht mal eine halbe Stufe aufwärts zum Göttlichen. Was mühen wir uns so vergeblich unter der nutzlosen Last!“ Da trennte sich Elisa von den anderen Rabbinern und warf sich den Sünden der Welt und der Verzweiflung des Unglaubens in die Arme. Da erschraken die Verbliebenen und blickten auf Rabbi Akiba, ob sie wohl auch ihn auf so schreckliche Weise verlieren müssten. Und auch er verbarg sein verstörtes Gesicht in den Händen. Als er aber nach langer Zeit Herr über seine Gesichtszüge wurde und aufschaute, da sah er die Bestürzung um ihn her, und er sprach: „Weh uns! Wie tot sind wir, gemessen am Lebendigen! Wie eng sind wir, gemessen am Unendlichen! Wie töricht sind wir, gemessen an der ewigen Weisheit! Aber Gottes Hand ist über uns, und er hat uns diese Form gegeben. An uns ist’s, dass wir uns demütig fügen in unsere Gestalt und darin wirken.“ Und Rabbi Akiba stand entschlossen auf und ging ins Lehrhaus, um zu lehren Ewiges in den armen Formen der Erde. Und er wurde der größte Lehrer seines Zeitalters...
Viele werden diese Geschichte befremdlich finden. Denn sie widerspricht dem verbreiteten Bild vom harmlosen, „lieben“ Gott. Sie widerspricht auch dem Trend zur kundenfreundlichen Kuschelreligion. Und doch leuchtet ein, was man uns da im Gewand der Legende mitteilt: Träten wir Gott ungeschützt gegenüber, so ginge es uns nicht anders als diesen vier Rabbinern. Auch wir wären dann bedroht von Wahnsinn, Tod und Verzweiflung. Was da gesagt wird über das dramatische Gefälle zwischen Gott und Mensch, das ist kein bisschen übertrieben. Es stimmt, was Rabbi Akiba sagt: „Gemessen am Lebendigen sind wir tot. Gemessen am Unendlichen sind wir eng. Gemessen an der ewigen Weisheit sind wir töricht.“ Diese Beschränkungen aber annehmen zu können, weil sie uns von Gott auferlegt wurden, das ist wichtig. Denn dann gerät unser Glaube bei aller Vertrautheit mit Gott doch nie zur plumpen Vertraulichkeit. Und wir vergessen dann auch nicht, dass wir es zu tun haben mit dem Herrn über Leben und Tod. Ich empfinde es als ein Wunder, wenn wir Sünder vor Gottes Augen bestehen können. Es ist Gottes Gnade, dass uns nicht seine schiere Gegenwart zerstört. Es ist Gnade, dass wir nicht unter seinem Blick zerschmelzen wie Wachs. Es ist Gnade, dass wir nicht ersaufen in diesem Ozean von Macht und Weisheit. Diese Gnade aber zur Selbstverständlichkeit zu entwerten, indem ich dem Heiligen „locker“ begegne, das lasse ich mir nicht einfallen. Den Respektlosen und Zudringlichen entzieht sich Gott – den Demütigen aber öffnet er sein Herz. Auch Mose musste die Schuhe ausziehen, bevor er sich dem brennenden Dornbusch nähern durfte. Danach begegnete er Gott. Der moderne Mensch aber, der so oft klagt, Gott rede nicht zu ihm, sollte über diesen Vorgang nachdenken. Es mangelt nämlich nicht an Dornbüschen. Aber nur wer bereit ist, die Schuhe auszuziehen, wird sie brennen sehen.