Ging Jesus seinen schweren Weg, damit wir ihn auch gehen? Oder ging er ihn stellvertretend für uns, damit wir das nicht müssen? Wohl folgt ein Jünger seinem Vorbild. Aber die Erlösten werden nicht zu Erlösern, wie der Lehrling einmal zum Meister wird. Der im Guten Vorangehende bahnt und ebnet für alle Nachfolgenden den Weg, so dass sie ihn in seinem „Windschatten“ bewältigen können. Jesus vertritt uns im Beseitigen der Hindernisse. Die Stellvertretung geht aber nicht so weit, dass er uns auch noch das Laufen abnähme!
Wären sie gern ein Jünger Jesu gewesen? Ich meine damals, als er durch Galiläa wanderte? Das muss ein aufregendes Leben gewesen sein! Denn jederzeit konnte ein neues Wunder geschehen! Jesus heilte Kranke, und die Jünger waren dabei. Jesus trieb Dämonen aus, und die Jünger erlebten es mit. Jesus predigte mit Vollmacht, und die Jünger saßen in der ersten Reihe. Sie waren nicht nur Zaungäste, sondern mitten im Geschehen. Sie waren nicht nur Bewunderer, sondern auch Freunde Jesu. Und noch mehr: Sie waren sogar Schüler dieses Meisters! Jesus hatte sie ausgewählt, um ihnen etwas weiterzugeben von seinem Wissen und seiner Kraft. Er hatte sie berufen ihm zu folgen, und sie hatten dafür alles stehen und liegen lassen. Sie gingen seinen Weg mit, um nichts zu verpassen. Und sicher empfanden sie es als Privileg, ihn auf Schritt und Tritt begleiten zu dürfen. Denn wer an Jesus dranblieb konnte erwarten, immer neue Erweise seines Geistes und seiner Kraft zu sehen.
Dann allerdings entschied Jesus, die Provinz zu verlassen und nach Jerusalem zu gehen. Mitten hinein in das Zentrum der religiösen und politischen Macht. Und schon unterwegs dorthin erschreckte er seine Jünger mit düsteren Voraussagen über sein Leiden und Sterben. Das hörten die Jünger nicht gern! Nämlich nicht um Jesu willen, dem sie nur Gutes wünschten. Und auch nicht um ihrer selbst willen, weil an Jesus doch all ihre Hoffnungen hingen! Als Jünger haben sie ihr Schicksal mit dem des Meisters verknüpft. Und Jesu Weg nach Jerusalem ließ nichts Gutes erwarten. Es hieß, den Konflikt mit den religiösen Autoritäten – den Pharisäern, Schriftgelehrten und Priestern – auf die Spitze zu treiben. Es hieß, die Wahrheit dorthin zu tragen, wo man sie am wenigsten hören wollte. Und selbst wenn Jesus sein Leiden nicht ausdrücklich vorausgesagt hätte, wären die Jünger vielleicht selbst darauf gekommen, dass das in Jerusalem übel ausgehen kann. Aber Jesus lässt nicht mit sich reden. Er folgt einem Plan, den die Jünger noch nicht verstehen. Sie können nicht begreifen, dass Jesu Leiden gerade ihretwegen notwendig ist. Sie sehen nur, dass Jesus sich von seinem Weg nicht abbringen lässt. Und dieser Weg wird von nun an immer enger, düsterer und trauriger. Es war der Preis, den Jesus dafür zahlte, unter bösen Menschen gut zu bleiben. Es war die Konsequenz dessen, was Jesus gelehrt und gelebt hatte. Und gerade diese Konsequenz im Guten trug ihm den Hass derer ein, die solche Konsequenz nicht aufbringen. Denn die Gegenwart des Richtigen im Falschen führt dazu, dass die Falschheit des Falschen sichtbar wird. Und so eine Bloßstellung lassen sich Menschen nicht gern gefallen. Wenn Jesus das aber in Kauf nahm und entschlossen war, den guten Weg dennoch ohne Rücksicht auf Verluste zuende zu gehen – was bedeutete das für seine Jünger, die doch seine Nachfolger und Schüler sein wollten? Sollten die ihm nun eisern nachfolgen – auch auf dem Weg in den Tod? Sollten sie als gute Schüler jetzt von Jesus lernen, wie man sich der Folter ausliefert? Nachahmung eines Vorbildes ist ja schön und gut! Aber etwa auch Nachahmung dieser Kunst, wie man sich für andere opfert und sich für die Wahrheit totschlagen lässt?
Die Jünger müssen sehr erschrocken sein, als ihnen klar wurde, was Nachfolge in dieser Situation bedeuten würde. Denn der Weg, der in Galiläa als ein fröhlicher Aufbruch begann, führte in Jerusalem ans Kreuz. Und jeder Lehrling, der seinen Meister so enden sieht, wird sich fragen, ob er dessen Kunst wirklich noch erlernen und ausüben will. Worauf hatten sich die Jünger da eingelassen? Sie schreckten zurück und flohen. Und – was tun wir?
Wir stehen vor einer wichtigen Frage, an der sich entscheidet, worin das Christ-Sein überhaupt besteht. Ging Jesus seinen Weg ans Kreuz, damit wir ihn auch gehen? Oder ging Jesus ans Kreuz, damit wir genau das nicht müssen? Wollte Jesus uns im Leiden ein Vorbild sein, indem er das zu Erlernende „vormacht“ und uns damit ein Beispiel gibt? Oder wollte er unser Stellvertreter sein, der am Kreuz unsere Stelle einnahm, um uns dieses Kreuz zu ersparen?
Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil sich im Neuen Testament beide Gedanken nebeneinander finden. Für Jesu Vorbildfunktion lässt sich anführen, dass er seine Jünger allezeit die Konsequenz im Guten gelehrt hat. Zweifellos will er, dass die Seinen mit ihm einschwenken auf den schmalen Pfad, der zum Himmel führt. Und dass damit notwendig Leiden verbunden sind, hat er keineswegs verschwiegen, sondern ausdrücklich offengelegt. Jesus sprach: „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.“ (Mt 16,24) Jesus sieht sich als Vorbild, dem die Jünger nacheifern sollen, auch wenn es sie viel kostet – oder sogar das Leben kostet…
Und doch finden wir daneben auch den Gedanken der Stellvertretung im Neuen Testament. Denn Jesus kannte die Schwäche seiner Jünger und hat bestimmt nicht angenommen, dass jeder von ihnen ein „kleiner Jesus“ werden könnte! Es machte ja auch keinen Sinn, stellvertretend sein Leben hinzugeben, wenn man denen, für die man es tut, dasselbe zutraut, sondern es macht nur Sinn, wenn man es ihnen gerade nicht zutraut! Ein stellvertretendes Opfer bringt man, um einem anderen dieses Opfer zu ersparen. Und wenn der Betreffende anschließend dasselbe noch einmal leisten müsste, wäre das Opfer umsonst gewesen! Unser Christ-Sein in der Nachfolge Jesu kann also nicht darin bestehen, dass wir Jesus in seiner Funktion als Erlöser kopieren. Denn könnten wir so gehorsam sein wie er, hätten wir ihn gar nicht gebraucht. Hätten wir selbst die Kraft zum gerechten Leben, hätten wir keinen Gerechten nötig, der für uns stirbt. Aber hebt das etwa den ersten Gedanken auf, dass wir als Christen Jesus nachstreben und seinen Weg mitgehen sollen? Starb Jesus denn, damit wir bleiben, wie wir sind? Nahm er die Last des guten Lebens auf sich, damit wir im bösen verharren? Das kann’s doch auch nicht sein! Damit aber beide Gedanken zusammenfinden, will ich ein Gleichnis einführen, das uns helfen kann Jüngerschaft und Nachfolge recht zu verstehen:
Stellen sie sich bitte einen dichten tropischen Dschungel vor, und eine Expeditions-gruppe, die sich da hindurch ihren Weg bahnen muss. Was verbindet dabei und was unterscheidet den an der Spitze Vorangehenden und die Nachfolgenden? Es dürfte klar sein, dass man nicht zu dritt nebeneinander durch den Dschungel marschiert, sondern im Gänsemarsch hintereinander. Es spart ja viel Kraft, wenn man mit der Machete nur den Weg in der Breite einer Person freimachen muss! Es gehen also alle hintereinander denselben schmalen Weg. Und darin sind sie gleich. Sie sind aber darin ungleich, dass der Erste in der Reihe die ganze Arbeit hat und den gefähr-licheren Job. Denn der Vorangehende ist nicht nur der, von dessen Orientierungs-gabe das Schicksal der ganzen Gruppe abhängt, sondern der Vorangehende muss den Weg auch mühevoll bahnen, muss die Schlingpflanzen zu Seite schieben und das Dickicht mit der Machete lichten, während die anderen in seinem Windschatten sehr viel bequemer gehen. Und sicherer dürfen sich die Nachfolgenden auch fühlen, weil ja der Vorangehende allen Gefahren zuerst begegnet. In jede Stolperfalle und in jedes Sumpfloch tritt der Vorderste zuerst hinein, jede giftige Schlange hängt zuerst in seinem Weg, und auch mit einem aufgeschreckten Raubtier bekommt er es als erster zu tun. So können zwar am Ende des Marsches alle Teilnehmer sagen, dass sie den gleichen Weg bewältigt und die gleiche Strecke zurückgelegt haben. Aber wer wollte deswegen behaupten, sie hätten dasselbe geleistet oder wären gleich? Nein, der große Unterschied liegt auf der Hand: Dass nämlich der Vorangehende den Weg genausogut bewältigt hätte, wenn niemand hinter ihm hergelaufen wäre, während die Nachfolgenden den Weg keineswegs bewältigt hätten, wenn der ortskundige Anführer und Scout nicht vorangegangen wäre. So sind sie zwar alle am Ziel angekommen und freuen sich alle gleichermaßen, aber der Dank gilt gerechterweise dem Einen, der die richtige Richtung kannte, der die Risiken auf sich nahm und stellvertretend für die ganze Gruppe die Hindernisse beseitigte. Wenden wir das nun auf Christus und die Christenheit an (weil doch auch Jesus seinen Jüngern vorangeht und wir ihm nachfolgen), so fügt sich zusammen, was vorhin widersprüchlich erschien. Denn auch der Scout im Dschungel erwartet und verlangt, dass ihm die ganze Gruppe folgt. Er erwartet aber nicht, dass jeder Teilnehmer der Gruppe selbst zum Scout wird und vorangeht, sondern er erspart den Schwachen das Vorangehen, das sie überfordern würde, und verlangt von ihnen nur das Hinterherlaufen auf der von ihm geebneten Bahn. Ebenso erwartet Jesus von seinen Jüngern nicht, dass wir alles könnten, was er kann. Wir Christen werden nicht zu Christus, wie der Lehrling eines Tages zum Meister wird! Wir Erlösten müssen nicht das Format des Erlösers haben! Aber dort, wo Jesus den Weg durch sein Vorangehen gebahnt und geebnet hat, erwartet er schon, dass wir ihm folgen. Und wenn wir’s nicht täten, würde uns Jesu Vorarbeit auch nichts nützen. Er räumt die Hindernisse weg, die uns zu schwer wären. Aber auf dem geräumten Weg sollen wir dann auch nachkommen und sollen nicht meinen, dass der Vorangehende auch noch stellvertretend für uns das Nachfolgen und Laufen übernähme. Wohl weiß Jesus und verschweigt nicht, dass es strenggenommen jedes Menschen Pflicht wäre, das Gesetz Gottes selbst zu erfüllen, kompromisslos das Gute zu tun und jeden erdenklichen Preis dafür zu zahlen! Doch weil er unser Scheitern voraussieht und sich erbarmt, darum erlaubt er uns in seinem Windschatten zu reisen, wo es viel leichter voran geht. Er erlaubt uns als Anhängsel seinem Weg zu folgen und mit ihm ins Reich Gottes zu gelangen, wo wir allein nie hingekommen wären. Er selbst sorgt dafür, dass es auch die Fußlahmen schaffen können. Die Feinde, die uns zu stark wären, hat Jesus erfolgreich aus dem Feld geschlagen! Nachdem aber Sünde, Tod und Teufel überwunden sind, erwartet Jesus schon, dass wir den freigeräumten Weg auch gehen. Der König mit der Dornenkrone geht voran, und wir dürfen uns dranhängen, um sein Gefolge zu bilden. Wenn wir dabei aber auch selbst noch ein wenig abbekommen vom Hass dieser Welt und ein paar Narben davontragen, dann sollten wir nicht weinerlich sein. Denn es gilt trotzdem, dass der Dübel nicht so hart sein muss wie der Bohrer.
Natürlich ist es die Aufgabe des Dübels, seinen Platz in der Wand zu finden. Das ist seine Pflicht und Schuldigkeit, und wenn er die nicht erfüllen kann, ist er wertlos. Aber haben sie mal versucht, einen Dübel mit dem Hammer in die Wand zu schlagen? Er versagt dabei kläglich! Und ebenso versagen wir, wenn wir unter den Hammer-schlägen des Gesetzes versuchen gerechte Menschen zu werden. Da wird nie etwas draus, denn die Wand ist zu hart, und der Dübel zu weich. Doch wenn sie den Vergleich entschuldigen: Jesus ist der Schlagbohrer mit der gehärteten Spitze, die auch in Beton eindringt. Und wenn der Bohrer unter Lärm und schrecklichen Schmerzen den Widerstand der Wand gebrochen hat, dann muss der weiche Dübel nur noch seinem Weg folgen. So findet der Dübel den Ort in der Wand, den einzunehmen er schuldig ist, ja, dem Bohrer „nachfolgend“ ist er exakt denselben Weg gegangen! Doch wird der Dübel nicht vergessen, wer ihm den Weg bahnte, und der weiche Dübel wird auch nicht so tun, als könnte er jemals zum Bohrer werden. Wenn aber in diesem Sinne Jesus der Bohrer ist, und wir die Dübel – was wäre dann absurder, als wenn der Dübel das Loch nicht nutzte, das der Bohrer für ihn gemacht hat? Wäre das nicht schrecklich, wenn der Dübel auf dem Tisch läge und spräche: „Nun, da das Loch in der Wand ist, werde ich nicht mehr gebraucht und muss da nicht mehr hin?“ So wäre ein Christ, wenn er sich sagte: „Jesus ist für mich vorangegangen und hat stellvertretend meine Aufgabe erfüllt, deshalb muss ich seinem guten Weg nicht mehr nachfolgen, sondern kann bleiben wie ich bin!“ Das wäre zuviel der Gemütlichkeit! Und so ist die Sache einfach zu verstehen. Ein Dübel, der ohne Bohrer versucht in die Wand zu kommen, muss scheitern. Und ein Dübel, der in der Werkzeugkiste bleibt, obwohl das Loch für ihn gemacht ist, der verfehlt seine Bestimmung. Ebenso scheitert ein Sünder, der ohne Jesu Hilfe versucht in Gottes Reich zu gelangen. Und ein Sünder, der die Bahn nicht geht, die Jesus ihm geebnet hat, verfehlt die Erlösung. Es gibt demnach kein Christ-Sein, das nicht Nachfolge wäre! Aber ein Nachfolger Christi ist ebensowenig ein „Selbstgänger“ wie ein „Stehenbleiber“, sondern ist ein „Windschattenfahrer“. Als Nachfolger Christi können wir den Weg nicht aus eigener Kraft gehen. Und noch weniger dürfen wir uns bei diesem Unvermögen beruhigen. Aber wenn der uns vorangeht, der stellvertretend allen Hass auf sich zieht, die tödlichen Schläge abfängt, den ganzen Gegenwind abbekommt, die Dornen zerteilt, die Hindernisse wegräumt und mit dem eigenen Leib den Seinen Deckung bietet – dann können und sollen wir uns als Nachfolger dranhängen und in den Spuren Christi zum Ziel gelangen. Wenn wir dort als Sieger ankommen, ist das beinahe geschummelt, denn Jesus zieht uns ja mehr, als dass wir voran laufen. Das bisschen Kreuz, das wir tragen, ist mit seinem auch überhaupt nicht zu vergleichen! Unser Erfolg geht ganz auf seine Rechnung! Aber eben so wollte Gottes Sohn es haben und genau dazu hat er sich all die Mühe gemacht. Bleiben wir also dran, versuchen wir mit Christus Schritt zu halten und bemühen wir uns um die Fußlahmen und Verwirrten, damit keiner zurückbleibt, und sich keiner verläuft. Denn das ist sicherlich Jesu Wunsch an uns, dass sein Leiden für keinen vergeblich sei, sondern ein jeder die Chance nutzt, die er uns so teuer erkauft hat…