ZUHÖREN

 

„Der erste Dienst, den einer dem andern in der Gemeinschaft schuldet, besteht darin, dass er ihn anhört. Wie die Liebe zu Gott damit beginnt, dass wir sein Wort hören, so ist es der Anfang der Liebe zum Bruder, dass wir lernen, auf ihn zu hören. Es ist Gottes Liebe zu uns, dass er uns nicht nur sein Wort gibt, sondern uns auch sein Ohr leiht. So ist es sein Werk, das wir an unserem Bruder tun, wenn wir lernen, ihm zuzuhören. Christen, besonders Prediger, meinen so oft, sie müssten immer, wenn sie mit andern Menschen zusammen sind, etwas „bieten“, das sei ihr einziger Dienst. Sie vergessen, dass Zuhören ein größerer Dienst sein kann als Reden. Viele Menschen suchen ein Ohr, das ihnen zuhört, und sie finden es unter den Christen nicht, weil diese auch dort reden, wo sie hören sollten. Wer aber seinem Bruder nicht mehr zuhören kann, der wird auch bald Gott nicht mehr zuhören, sondern er wird auch vor Gott immer nur reden. Hier fängt der Tod des geistlichen Lebens an, und zuletzt bleibt nur noch das geistliche Geschwätz, die pfäffische Herablassung, die in frommen Worten erstickt. Wer nicht lange und geduldig zuhören kann, der wird am Andern immer vorbeireden und es selbst schließlich gar nicht mehr merken. Wer meint, seine Zeit sei zu kostbar, als dass er sie mit Zuhören verbringen dürfte, der wird nie wirklich Zeit haben für Gott und den Bruder, sondern nur immer für sich selbst, für seine eigenen Worte und Pläne. Brüderliche Seelsorge unterscheidet sich von der Predigt wesentlich dadurch, dass zum Auftrag des Wortes hier der Auftrag zum Hören hinzutritt. Es gibt auch ein Zuhören mit halben Ohren, in dem Bewusstsein, doch schon zu wissen, was der Andere zu sagen hat. Es ist das ungeduldige, unaufmerksame Zuhören, das den Bruder verachtet und nur darauf wartet, bis man endlich selbst zu Worte kommt und damit den Andern los wird. Das ist keine Erfüllung unseres Auftrages, und es ist gewiss, dass sich auch hier in unserer Stellung zum Bruder nur unser Verhältnis zu Gott widerspiegelt. Es ist kein Wunder, dass wir den größten Dienst des Zuhörens, den Gott uns aufgetragen hat, nämlich das Hören der Beichte des Bruders, nicht mehr zu tun vermögen, wenn wir in geringeren Dingen dem Bruder unser Ohr versagen. Die heidnische Welt weiß heute etwas davon, dass einem Menschen oft allein dadurch geholfen werden kann, dass man ihm ernsthaft zuhört, sie hat auf dieser Erkenntnis eine eigene säkulare Seelsorge aufgebaut, die den Zustrom der Menschen, auch der Christen findet. Die Christen aber haben vergessen, dass ihnen das Amt des Hörens von dem aufgetragen ist, der selbst der große Zuhörer ist und an dessen Werk sie teilhaben sollen. Mit den Ohren Gottes sollen wir hören, damit wir mit dem Worte Gottes reden können.“ (Dietrich Bonhoeffer)